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Meinung: Zu lang in einer Unterhose

Roger Boyes, The Times

Zu Gast bei Freunden, Teil I: Einer nach dem anderen verließen die Fahrgäste der S 7 die Sitze links und setzten sich auf die rechte Waggonseite. Wären wir in einer venezianischen Gondel oder einem Kanu gewesen und nicht der S-Bahn, wir wären gekentert. Der Grund war ein Penner und das rohe Parfüm der Obdachlosen: Urin, Alkohol. Aber die wirkliche Entdeckung war der Geruch jener, die vor ihm geflohen waren: Schweiß, eingetrocknet in die Kunstfasern der Kleidung – der charakteristische Duft dieser ungewaschenen Stadt. Uns war erzählt worden, dass Sauberkeit eine preußische Tugend sei, auf der Skala nur kurz unter Pünktlichkeit und guten Essmanieren. Die Sauberkeit scheint sich wie der preußische Staat davon gemacht zu haben.

Die große Sauberkeitsdebatte hatte vergangene Woche die Kollegin Andrea Seibel losgetreten, mit einer Bemerkung über den trostlosen Zustand der Damentoiletten in der Hauptstadtrepräsentanz der Deutschen Bank Unter den Linden: die T-Frage. Das erinnerte mich an eine Vorlesung vor vielen Jahren an der Bukarester Universität. Der brillante Politikwissenschaftler Michael Shafir wurde von einem blassen, ernsten Studenten gefragt, wo Europa anfangen, wo Europa enden würde. „Gehen Sie auf die Toilette“, war die Antwort, „und sagen Sie mir, wie es da aussieht und ich sagen Ihnen, wie nah sie an Europa dran sind.“

Ehrlich gesagt, nach dieser Definition würden große Teile Deutschlands aus Europa ausgewiesen werden. Eine Weile konnten wir noch so tun, als ob die verstopften Klos der Deutschen Bahn und die überquellenden dreckigen Handtücher in öffentlichen Gebäuden ein Relikt des Kommunismus seien. Nach dem bekannten Argument: Kollektivbesitz zerstört individuelles Verantwortungsgefühl.

Aber, in aller Offenheit, das war Besserwesserei. Die Kultur des dreckigen Deutschlands war nie geografisch oder politisch eingrenzbar. Schon immer waberte in West-Berlin ein ekelhafter Geruch durch die Schulklos. In meinem (verhassten) englischen Internat mussten wir abwechselnd die Klos putzen: Damit war der soziale Druck enorm, sorgsam mit ihnen umzugehen. In deutschen Schulen macht die Putzfrau aus Montenegro den Dreck weg. Früher gab es an deutschen Schulen noch den Fegedienst. Abgeschafft: Feinstaubrisiko.

Das ist nicht nur ein Problem des korrekten Gebrauchs von öffentlichem Raum. Die gesamte Gesellschaft duldet Nachlässigkeit in Sachen Körperhygiene. Bei Frauen, die sich in Großbritannien die Haare entfernen lassen, wird warmer Wachs mit Holzspateln aufgetragen. Die werden danach weggeschmissen. In Deutschland werden Frauen mit Rollern enthaart, die eigentlich nach jedem Gebrauch sterilisiert werden müssten. Das passiert aber selten; sie werden immer wieder benutzt. Wenn die Kosmetikerinnen über wenig Erfahrung beim Haarentfernen verfügen, kann es sein, dass sie ihre Kundinnen anritzen. Blut und Haare wandern so von einem Körper zum anderen.

Ist das wichtig? Vielleicht nicht. Mit einem gewissen Grad an Dreckigkeit sollten wir eigentlich ganz gut leben können; es hat keinen Sinn, so zu tun, als könnten wir je in einer sterilen Welt leben. Wollen wir denn wie die Schweden sein? Natürlich nicht. Ohnehin sollte man Vorsicht walten lassen bei irgendwelchen internationalen Vergleichen. Wer weiß schon, ob die Briten oder die Franzosen sauberer sind als die Deutschen?

Das Beweismaterial, das einem in überfüllten Räumen in die Nase steigt, sollte aber eigentlich schon ausreichen. Nur 62 Prozent der deutschen Männer wechseln täglich ihre Unterhosen (Quelle: das Marplan Institut). Viele Männer in Deutschland tragen ihre Unterhose drei Tage lang und drehen sie am vierten von innen nach außen. Nur 37 Prozent der deutschen Männer duschen einmal am Tag (und peinliche 16 Prozent bei den über 55-Jährigen). Jeder zehnte Deutsche putzt sich am Morgen nicht die Zähne. Atmen Sie ein, wenn sie das nächste Mal in der S-Bahn sind. Und dann atmen Sie aus. Du bist Deutschland.

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