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Musical im Hamburg: „Hamilton“ rappt jetzt an der Elbe

Am Broadway ist „Hamilton“ seit Jahren ein Mega-Hit, jetzt erlebt das Musical seine deutsche Erstaufführung im Hamburger Operettenhaus

Und plötzlich passt hier alles zusammen. US-Außenminister Thomas Jefferson und Finanzminister Alexander Hamilton liefern sich 1790 im Parlament eine hitzige Debatte, die Argumente fliegen durch den Raum - und Daniel Dodd-Ellis und Benét Monteiro performen das als Rapbattle, als lustvollen Streit, halb intellektueller Austausch, halb Sport, bei dem wohlgesetzte Schläge unter die Gürtellinie zum Konzept gehören. Hier entfaltet sich der Reiz von „Hamilton“, Lin-Manuel Mirandas Erfolgsmusical, das als erster Broadway-Hit HipHop und R’n’B integrierte und so das im romantizistischen Streichersumpf dahindämmernde Genre in die Gegenwart holte. Und das jetzt auch den Hamburger Musicalkonzern Stage Entertainment mit der ersten nicht-englischsprachigen Lizenzproduktion des Stoffs aus der kreativen Krise holen soll.

Das Problem dabei: Bis zum Streit im Parlament läuft „Hamilton“ schon rund 90 Minuten im Hamburger Operettenhaus, und diese 90 Minuten ziehen sich. Das historische Vorbild nämlich will erstmal erklärt werden: Alexander Hamilton (1755 oder 1757 - 1804) war der erste Finanzminister der Vereinigten Staaten und gilt heute als früher Ökonomie-Theoretiker. Zudem war er ein Außenseiter, geboren als illegitimes Kind auf der Karibikinsel Nevis, hochintelligent, aber auch impulsiv und mit unstetem Liebesleben – und das ist der Anknüpfungspunkt für die dramatische Handlung. Erzählt wird nicht in erster Linie von Wirtschaft, erzählt wird vom Leben eines Menschen, der von ganz unten kommt, der sich hochkämpft und der am Ende an seinen eigenen Ambitionen scheitert. Hamilton nämlich demütigt seinen Freund, Weggefährten und Rivalen Aaron Burr (Gino Emnes), woraufhin der ihn im Duell erschießt.

Allein, wirklich nahe kommt man den Figuren nicht. Erst scharwenzelt der junge Hamilton als Wichtigtuer durch Politrunden in New Yorker Kneipen, bald darauf kämpft er im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Briten, zwischendurch heiratet er Iliza (Ivy Quainoo), mischt die Politik auf und stolpert über eine außereheliche Affäre (Mae Ann Jorolan). Das geht alles wahnsinnig schnell, Aufstieg und Fall eines nicht unsympathischen Politiktiers, aber man versteht gar nicht, was diese Figuren im Herzen antreibt. Was Iliza an Hamilton findet, weswegen sich Burr und Hamilton entzweien, erzählt dieses Abhaken biografischer Stationen nicht.

Die Darsteller:innen trifft keine Schuld: Monteiro singt, spielt und tanzt Hamilton als jugendlichen Heißsporn, der seine Unsicherheit durch großformatige Gestik zu überdecken versucht, Emnes’ Burr ist ein politischer Taktiker, der seinen Sparringspartner ehrlich mag, dabei aber auch weiß, dass dieser ihm gefährlich werden wird. Entsprechend bekommt der Abend vor allem als Schilderung der Zweierbeziehung Hamilton-Burr Fleisch auf die Rippen. Allein: Das reicht dem Stück nicht, es will auch noch erzählen von Liebe, von Aufopferung, von Treue. Und findet dafür keine Bilder.

Tatsächlich passiert auf der Bühne verhältnismäßig wenig. Wenn ein Musical, bei dem optische Überwältigung dem Genre quasi eingeschrieben ist, kaum Schauwerte bietet, ist das interessant. Die gesamte Handlung spielt sich in einem gesichtslosen Backsteinbau ab, vielleicht ist es die Kellerkneipe, in der Hamilton zu Beginn politische Reden schwingt: „Komm, Sohn / Wir heben unser Glas auf die Revolution!“.

Was dann folgt, sei es Schlachtfeld, sei es Hochzeitsnacht, wird mittels weniger Requisiten oder als Mauerschau angedeutet. Was erst einmal als reizvoller Bruch mit den Konventionen des Musicals erscheint, wird bald langweilig, wenn ein Schreibtisch reingerollt wird, und man jetzt glauben soll, dass man sich im Ministerbüro befindet, wo man doch immer noch in der Kneipe sitzt.

Was allerdings überraschend gut funktioniert, ist die Übertragung der amerikanischen Originaltexte ins Deutsche. Die stammt vom Routinier Kevin Schroeder, doch um den Texten das richtige Streetfeeling zu verschaffen, stand ihm Rapper Sera Finale zur Seite. Gerade bei den rhythmusbetonten HipHop-Nummern gelingt das erfreulich klischeearm, während der schwelgerische R’n’B in den Liebesszenen  schon sehr tief ins Herzschmerz-Sentiment rutscht.

Interessant auch die Passagen, in denen Jan Kersjes als König George IV soignierten Artschool-Britpop performt (von Philipp Gras mit Freude an der musikalischen Achterbahnfahrt dirigiert) und so eine ganz neue Klangfarbe einbringt. Kersjes zeigt so etwas, das der Produktion ansonsten fehlt: Humor. Als Monarchie-Karikatur kann er neben seiner Rolle stehen.

Er spottet lässig über die in der unbotmäßigen Kolonie wachsende Demokratie: „Dann versucht es halt ohne mich!“ Schließlich deutet er eine kleine Tanzbewegung an, um diese einfach abzubrechen, kein Bock mehr. Anzunehmen, dass Kersjes schnell zum Publikumsliebling avanciert, in einem Musical, das in seiner tiefen Ernsthaftigkeit eben doch mehr Geschichtsstunde ist und weniger sinnliches Musiktheater.

„Wer lebt, wer stirbt, wer schreibt Geschichte?“, singt Quainoo zum Schluss, und das bringt „Hamilton“ auf den Punkt. Es geht darum, Geschichte zu schreiben, eine Geschichte der Demokratie, eine Geschichte von gesellschaftlichem Aufstieg, auch eine antirassistische Geschichte, die sich in die Aufführung eingeschrieben hat: Der Cast ist zutiefst divers, Hautfarbe wird hier tatsächlich transzendiert - und wäre das Frauenbild der Vorlage nicht gar so sehr von vorgestern, man könnte den Hamburger „Hamilton“ tatsächlich als woke Modellinszenierung loben. Wenn der Abend nur nicht so langweilig wäre.

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