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Politik: ... wir unsere Ängste schätzen lernen

Die Geschichte der Justiz ist die Geschichte ihrer Irrtümer. Als die Neandertaler zum ersten Mal einen Kollegen erschlugen, weil er sich angeblich zu viel von der gegrillten Mammutlende aufgetan hatte, begann der ganze Ärger.

Die Geschichte der Justiz ist die Geschichte ihrer Irrtümer. Als die Neandertaler zum ersten Mal einen Kollegen erschlugen, weil er sich angeblich zu viel von der gegrillten Mammutlende aufgetan hatte, begann der ganze Ärger. Heute sind die Formen der strafenden Gerechtigkeit zwar ziviler geworden, lassen aber einen wichtigen Gesichtspunkt völlig außer Acht: Die meisten Menschen wollen überhaupt nicht bestraft werden.

Das ist ein Aspekt, der in der Fachliteratur bislang kaum beachtet wurde. Dabei haben die meisten Delinquenten schon vor Jahrhunderten außerordentlich negativ auf justizielle Anwendungen wie Vierteilen oder Teeren und Federn reagiert. Das traditionelle Steinigen dürfte bei den Betroffenen in biblischen Zeiten äußerst ablehnende Reaktionen ausgelöst haben, und die ins Extreme gesteigerte Angst vor der Guillotine war schon in der Zeit der französischen Revolution bekannt. Leider wissen wir heute nicht mehr, welche Abwägungen Robespierres persönliche Referenten damals vorgenommen haben – es war halt eine Zeit, in der wenig auf die Aktenlage gegeben wurde.

Heute ist das scheinbar anders. Etablierte Demokratien lassen präzise ermitteln und menschenwürdig bestrafen, die Todesstrafe ist zumindest in Europa abgeschafft, und die hiesigen Gefängnisse stehen im Komfort einfachen BackpackerHotels kaum nach, ja, sie bieten sogar Vollpension.

Und doch: Für alle Menschen sind sie nicht geeignet. Nehmen wir den kroatischen General Ante Gotovina, den das Haager Tribunal wegen Kriegsverbrechen an Serben sucht. Kroatien weigert sich aber ihn auszuliefern, nicht wegen durchsichtiger politischer Motive oder alter Seilschaften, sondern aus einem zutiefst humanitären Grund: Der Mann leidet unter einer „Gefängnis-Phobie“, fürchtet sich vor dem Eingesperrtsein.

Klar, dass eine Inhaftierung deshalb überhaupt nicht in Betracht kommt, nicht einmal untersuchungshalber. Doch im Grunde ist das Gotovina-Prinzip nicht nur auf Knast-Neurosen, sondern auf die gesamte moderne Gesellschaft anwendbar. Viele von uns reagieren mit unkontrollierbarem Händezittern auf den Steuerbescheid, sie leiden also unter Steuerphobie. Die Langsamfahrphobie ist ein unter Autofahrern weit verbreitetes Leiden, und es fehlt im Grunde nur der Anwalt, der den Behörden bescheinigt, sein Mandant reagiere auf Anzeigen mit Ohnmachtsanfällen und Schwindel, dürfe also keinesfalls mit Knöllchen behelligt werden.

Kurz: Die Phobie ist schwer im Kommen, niemand sollte sich vor ihr fürchten. Tausend Dank, Herr Gotovina! bm

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