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Die Keupstraße nach dem Anschlag.

© dpa

11 Jahre nach dem NSU-Terror: Anschlag auf das Vertrauen in der Keupstraße

Der Terror des NSU hat in der Kölner Keupstraße tiefe Wunden hinterlassen. Vor allem falsche Verdächtigungen durch die Polizei wirken bis heute nach.

Es war ein Haarschnitt, der Alpay Özer am 9. Juni 2004 fast das Leben gekostet hätte. Seine Frau schneidet normalerweise seine Haare. Aber sie hatte keine Zeit, also nahm Özer, der eigentlich anders heißt, an diesem Mittwoch vor mehr als zehn Jahren Platz auf einem Friseurstuhl in der Keupstraße in Köln-Mülheim. Der Friseur hatte eben die letzten Schnitte angesetzt, aber die Kontur war nicht ganz gerade. Was seine Haare angehe, sei er Perfektionist, sagt Alpay Özer. Der Friseur beugte sich über Özers rechte Schulter, als vor der Tür der Sprengsatz explodierte. Die Druckwelle der Nagelbombe zerfetzte die Scheiben des Salons. Zentimeter lange Zimmermannsnägel und messerscharfe Glasscherben zischten durch den Raum.

Sie bohrten sich tief in den Körper des Friseurs. Özer hatte nur ein paar Kratzer, sein Retter aber war schwer verletzt. „Er hat mich abgeschirmt, sonst wäre ich direkt getroffen worden“, sagt Özer heute. „Das begleitet mich mein ganzes Leben.“ Im Schock stand er auf und lief los. Raus aus dem Salon und auf die Straße. Er hatte immer noch seinen Umhang vom Friseur an. Er sah die Trümmer, die Scherben, die Nägel, die die Bombe hinterlassen hatte. Und Menschen, die panisch umherliefen. Auch er rannte jetzt. Er hörte erst wieder auf, als er in einem Café ein bekanntes Gesicht sah. Alpay Özers weiße Hose hatte Blutflecken, sein Haar war voller Scherben. „Seitdem“, sagt Özer, „ist die Straße nicht mehr die gleiche.“

Der Nagelbombenanschlag des Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) hat eine klaffende Wunde in das pulsierende Herz gerissen, dass die Keupstraße 2004 für die türkische Gemeinde Köln-Mülheims war. 22 Menschen wurden verletzt, vier davon schwer. Im Landgericht München wird das Geschehen nun rekonstruiert. Die Keupstraße spielt eine wichtige Rolle in der Aufarbeitung der NSU-Verbrechen. Özer hat dem vorsitzenden Richter Manfred Götzl seine Geschichte erzählt. „Es war eine ungewöhnliche Situation vor all diesen Menschen im Gerichtssaal zu sitzen“, sagt er, als er wieder zurück ist in seinem Restaurant in der Keupstraße. Seine dunklen Haare sind akkurat frisiert, er ist glatt rasiert.

Die Kundschaft blieb aus

Nach dem Anschlag hat er weitergemacht, führt jetzt sein eigenes Restaurant. Aber vergessen kann er das alles nicht. Im Münchener Prozess geht es darum, wer Schuld trägt an den Verbrechen des NSU. Geht man heute durch die Keupstraße, ist der Gerichtssaal aber weit weg. Den Menschen hier geht es nicht um Schuld, ihnen geht es um Vertrauen. Vertrauen in die Polizei und andere Sicherheitsbehörden, die sieben quälende Jahre lang nur in eine Richtung ermittelten. Und die Politik, die lange Zeit die Ängste der Bewohner der Keupstraße ignoriert hat. Dieses Vertrauen ist noch nicht zurückgekehrt. „Das Zusammenleben mit den Deutschen wurde wegen der falschen Verdächtigungen sehr schwer“, sagt Mitat Özdemir, der die Geschäftsleute der Keupstraße in einer Interessengemeinschaft vertritt.

Die Anschläge schadeten auch wirtschaftlich. Vor allem die deutsche Kundschaft blieb aus. Die Vorurteile legten sich erst, als klar wurde, dass es Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt waren, die zusammen mit Beate Zschäpe den Kern des NSU bildeten, und die Bombe wohl auf einem Fahrrad vor dem Friseurladen parkten. Sie zündeten das Gemisch aus Schwarzpulver, Campinggas und Zimmermannsnägeln per Fernsteuerung. Mitat Özdemir sagt, damals sind hier zwei Bomben explodiert. Die erste zerschlug Schaufenster und hinterließ Narben auf der Haut der Anwohner. Die zweite wurde durch die Verdächtigungen der Ermittler gezündet, die Streit zwischen Kurden und Türken als eine mögliche Ursache für die Bombe in der Keupstraße sahen und die, ohne einen Beweis dafür zu haben, rechtsextreme Hintergründe ausschlossen.

Zusammen mit einigen Engagierten hat Özdemir die Initiative „Keupstraße ist überall“ gegründet. Der schmale, ältere Mann mit dem roten Schal und der Schiebermütze ist deshalb viel unterwegs auf der Straße. Er tingelt durch die vielen türkischen Restaurants, Juwelierläden und Bäckereien, die Friseur-Salons und Teestuben und spricht mit den Anwohnern. Und er unterstützt mit seinen Helfern die Opfer und Zeugen des Anschlags, die derzeit in München aussagen. Vielleicht, sagt Özdemir, sei es etwas hoch gegriffen, aber am Schicksal der Keupstraße entscheide sich, wie sich Deutschland entwickle. Es gebe Menschen mit Scheuklappen, die sagten, die Keupstraße sei ein Ghetto. „Hier muss man ein Zeichen setzen, dass wir alle zusammen gehören“, sagt Özdemir. Es reiche aber nicht, das bloß zu sagen. Leben müsse man es. In der Keupstraße – und in ganz Deutschland.

Jan Guldner

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