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Politik: 7. Oktober 1989 - Die DDR wird 40 und die Opposition gegen das Älterwerden tritt offen auf den Plan

"Totgesagte leben länger", antwortete Erich Honecker und wandte sich dem Rollfeld des Flughafens Berlin-Schönefeld zu. Die Frage eines Journalisten, wie er sich fühle, kränkte den 77-Jährigen.

"Totgesagte leben länger", antwortete Erich Honecker und wandte sich dem Rollfeld des Flughafens Berlin-Schönefeld zu. Die Frage eines Journalisten, wie er sich fühle, kränkte den 77-Jährigen. Doch der Staats- und Parteichef, der nach einer Gallenoperation die Amtsgeschäfte wieder aufgenommen hatte, kämpfte am 6. Oktober 1989 mit anderen Sorgen. Die größte schwebte gerade aus Moskau ein und hieß Michail Gorbatschow. Mit dem sowjetischen Reformer kam der höchste Staatsgast des 40. DDR-Geburtstags - und zugleich der gefährlichste. Dessen Programm von Glasnost und Perestroika war Gift für den erstarrten "Sozialismus in den Farben der DDR". Doch der Gastgeber setzte ein Lächeln auf und schenkte dem Besucher drei Bruderküsse.

"Es lag etwas Widerständiges in der Luft", erinnert sich Stefan Wolle, "die Führung war gelähmt." Der Historiker begab sich am Nachmittag des 7. Oktober zum Alexanderplatz. Dort demonstrierten allmonatlich ein paar Dutzend Menschen gegen die gefälschten Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989. Regelmäßig hatte die SED darauf mit Festnahmen reagiert, doch am "Republikgeburtstag" fand auf dem Alex das traditionelle Volksfest statt. Tausende Menschen tummelten sich zwischen Losbuden und Broilerständen, als gegen 17 Uhr eine Handvoll Oppositionelle nach "Freiheit" rief. Schnell wuchs die Menge in der Nähe der Weltzeituhr an - Protestler, Festbesucher, Stasi-Ermittler und politisch korrekt diskutierende "Veteranen" bildeten ein Menschenknäuel. Die Sicherheitskräfte verloren die Übersicht, die Befehlshaber im "Haus des Lehrers" blieben hilflose Beobachter. Nach einer halben Stunde formierte sich eine Demonstration zum Palast der Republik, in dem die Feierstunde der Staatsprominenz stattfand. An den Spreebrücken stoppten Polizeiketten den Zug. Die etwa 2000 Menschen riefen "Gorbi, hilf uns".

Im "Pallozzo Prozzo" lief die Feierstunde auf Hochtouren. Künstler bemühten sich um gute Laune. Im Foyer der vierten Etage präsentierte Carmen Nebel "Pop aktuell", und Dagmar Frederic moderierte zusammen mit Wolfgang Lippert "Die großen Erfolge". Der Empfang galt als Höhepunkt der pompösen Geburtstagsparty. Bereits am Vorabend hatte Honecker der "machtvollen Demonstration" von 100 000 FDJ-Aktivisten zugewunken und Arbeiterlieder mitgesungen - auch die Zeile " . . . mit uns zieht die neue Zeit". Am Morgen des 7. Oktober ging es weiter mit militärischem Gerassel. Auf der Karl-Marx-Allee paradierte die Nationale Volksarmee mit Panzern und frisch gestrichenen Raketen. Der für weltweite Abrüstung werbende Gorbatschow blätterte verärgert im Programmheft oder blickte medienwirksam auf die Uhr. Was er von der Politik der DDR hielt, hatte der Kremlchef bereits vorher deutlich gemacht: "Gefahren lauern auf jene, die nicht auf das Leben reagieren." Die Ostdeutschen verstanden den Satz allzu gut und verwandelten ihn in das Sprichwort: "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben."

Die Menschen, die den Moskauer Besucher beim Wort nahmen, harrten vor den Türen der Staatsmacht aus. Zwischen Volk und Partei patrouillierten Polizeiboote. "Ich habe mit erstaunten Augen rausgeguckt", erinnert sich Politbüro-Mitglied Günter Schobowski. Dem Berliner SED-Chef dämmerte allmählich, dass "unsere Politik abgenutzt war". Für die Demonstranten hatte er keine Zeit. Nach einem kurzen Blick und der Versicherung, "dass alles friedlich blieb", wandte er sich dem Festbankett zu. Als Dunkelheit hereinbrach, verließen die Menschen den Schauplatz. Ein Protestzug formierte sich zur Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg, in der seit dem 1. Oktober eine Mahnwache für politische Gefangene stattfand.

Als die Demonstranten vor der Kirche ankamen, hatte es bereits erste Prügelszenen gegeben. Vor dem Haus der staatlichen Nachrichtenagentur ADN gingen Polizei und Stasi gegen "Pressefreiheit" fordernde Demonstranten vor. Den Bereich um die Kirche sperrten die "Organe" weiträumig ab, Wasserwerfer und Räumfahrzeuge der Bereitschaftspolizei Basdorf rückten auf der Schönhauser Allee vor. Mit Gummiknüppeln wurde wahllos auf die Menge eingedroschen. Unbeteiligte wurden in Hausflure gezerrt und verprügelt, Frauen und Kinder brutal "zugeführt". Die Kirchenglocken läuteten, eine auf dem Viadukt vorbeifahrende U-Bahn hupte aus Protest. Am nächsten Abend wiederholte sich die Gewalt. Es kam zu Verhaftungen. Wolle war darunter. Am folgenden Mittag wurde er einem Kommissar vorgeführt. "Auf diese Weise werden Sie kein Problem lösen", sagte Wolle. Der Kommissar schaute kurz auf und antwortete: "Das sehe ich auch so." Kurz darauf durften die Inhaftierten gehen. Am Abend des 9. Oktober demonstrierten 70 000 Menschen friedlich in Leipzig. Die Würfel waren gefallen.

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