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Politik: Akkus leer

Westberlin war eine wunderbare Stadt, von einer weißen Mauer umzogen und einem müden Feind umstellt. In dieser Nacht ist er gekommen.

Westberlin war eine wunderbare Stadt, von einer weißen Mauer umzogen und einem müden Feind umstellt. In dieser Nacht ist er gekommen. Als das Telefon klingelte, war es meine Schwester. Ich schlief. Lars, du musst mit deiner Kamera drehen, die Mauer ist auf! Die Mauer ist auf, wir müssen drehen! Das Unvermeidliche kam nachts. Der Feind schlief, aber die Mutigsten, die verwegensten Rebellen, Schichtarbeiter, und Kneipengäste stürmten im Wedding den antifaschistischen Schutzwall. Mein Freund Eike, der Regisseur, jagte mit wirrem Haar, Mercedes und Rohfilm zu mir. Westberlin lag ruhig wie ein Indianerdorf kurz vor der Feuerjagd. Jetzt drehen? Meine Kameraakkus waren nicht geladen. Egal, schnell zum Zoo. Natürlich hatten wir beide Schabowski gesehen. Seinen Zettel aus der Hosentasche. Der Überbringer dieser Nachricht wäre 40 Jahre lang an der Mauer erschossen worden. Aber in dieser Nacht wurde Schabowskis Zettel zum Reisepass für alle, die nicht schliefen. Die Fremden jubilierten wie versprengte Außerirdische, die eine Botschaft vereint. Hätte das schlafende Politbüro es doch nur hören können! Wie einfach wäre es gewesen, am nächsten Tag, bei Arbeitsbeginn, die Mauer wieder zu schließen. Westberlin hätte weiter seinen elitären Traum von der Insel der Freiheit geträumt. Denn diese fröhlichen Menschen, die in dieser Nacht einbrachen, wollten ihn nur kurz mitträumen. Die Botschaft, die alle vereinte und die das Politbüro hätte hören müssen, hieß: „Wir gehen wieder nach Hause! Wir wollen nur mal gucken! Morgen früh muss ich zur Arbeit!“ Der Akku meiner Kamera brach endgültig zusammen, als einer schrie: „Ich muss zurück nach Hause, meine Suppe brennt an.“Fotos: privat

Lars Barthel ist Kameramann. Er flüchtete 1982 aus der DDR über Indien nach WestBerlin.

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