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Der Alte und sein Junior: Ex-Kanzler Helmut Kohl (links) und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker.

© REUTERS

Altkanzler Helmut Kohl stellt Europa-Buch vor: Über das Recht, recht zu haben

Helmut Kohl stellt sein Buch "Aus Sorge um Europa" vor. Sein Laudator ist Mister Europa - der neue Komissionschef Jean-Claude Juncker. Der teilt nicht alle Vorwürfe des ehemaligen Bundeskanzlers.

Von Robert Birnbaum

Neulich beim Fest im Dorf hat der Altbauer wieder über die Zeiten geschimpft, die hereingebrochen sind. Schwer sei’s gewesen damals, hat er gesagt, aber man hat doch noch gewusst was Recht ist. Die anderen Alten haben still dazu genickt, wie sie immer genickt haben, bis auf die, die mit dem Altbauern einen alten Streit haben.

Helmut Kohls Rede wird auf einem Computerstick verteilt, als kleiner Service für alle, die sich nachher schwertun werden, die mühsam geformten Worte des Manns im Rollstuhl zu verstehen. Der Altkanzler hat ein Buch verfasst: "Aus Sorge um Europa". Ein Vorabdruck hat mit dem Wort vom "Schandstück deutscher Politik" einige Aufmerksamkeit erzeugt. Das Wort galt Gerhard Schröder und dem deutsch-französischen Verstoß gegen den Maastricht-Stabilitätspakt unter der rot-grünen Regierung.

Aber der Unmut des Altbauern reicht über den direkten Hofnachfolger weit hinaus, wobei festzuhalten ist: Wer auf den 119 Seiten Kritik an Angela Merkel sucht, findet keine. Ihr Name kommt nicht vor.

Doch es kann ja auch nicht nur die "Alternative für Deutschland" gemeint sein, wenn Kohl eine ganze Batterie von Beschimpfungen auf alle loslässt, die auch nur infrage stellen, dass man mit seiner Sichtweise, der der Kriegsgeneration, junge Leute heute nicht mehr für Europa begeistern kann: "Geschichtslosigkeit", "Kleinmut", "Leichtfertigkeit", "Unkenntnis", "Selbstgefälligkeit" …

Am Montagmittag sitzt der Autor auf einem Podium in der Frankfurter "Villa Kennedy" neben seiner Frau. Maike Richter will erst mal etwas klarstellen: Das meiste, was so über sie beiden geschrieben werde, sei falsch; und im Übrigen sei sie einfach hier, um ihren Mann zu begleiten. Später erzählt sie auf eine Nachfrage hin dann aber doch, dass sie in gewisser Weise Mitautorin ist: Sie hat seine Gedanken zusammengefasst, und er hat dann gesagt, was er gut findet und was nicht.

Jean-Claude Juncker findet, dass Helmut Kohl und sein Buch gut zusammenpassen. Früher hat Kohl Juncker liebevoll "Junior" genannt. Heute ist Junior Mister Europa. Er hat seinen ersten Arbeitstag als EU-Kommissionspräsident verschoben, um dem alten Freund die Ehre zu erweisen. Juncker ist nicht mit allem einverstanden, was Kohl aufgeschrieben hat, aber mit dem meisten, und mit dem Rest übt er Nachsicht: Manches müsse man "mit Nuancen" sehen. Eine dieser "Nuancen" betrifft die Aufnahme Griechenlands in den Euro. Kohl schreibt, dass Athen niemals 2001 in die Währungsunion gekommen wäre, hätte man ihn bloß Kanzler bleiben lassen. Juncker erinnert zart daran, dass damals alle die Fortschritte der Griechen gewürdigt hätten und nicht ahnten, dass die Zahlen falsch waren: "Man muss die Dinge in ihrem Kontext sehen."

Aber im Kern sind sie sich einig, der alte und der frisch berufene Europäer. "Wir brauchen in Europa wieder mehr Gemeinsinn und Gemeinschaftsgeist", sagt Kohl: "Noch ist es nicht zu spät in Europa!" Juncker teilt die Sorge: Man müsse ja blind sein, wenn man nicht sehe, dass sich die Bürger immer weiter von Europa entfernten; auch, dass es in der öffentlichen Debatte ziemlich viele dumme "Zwischenzungenschläge" gebe und Hinwendung zur "Kleinstaaterei".

Aber der Luxemburger hat erkennbar keine Lust, die Schlachten von gestern mitzuschlagen. "Helmut Kohl hat recht, dass er Bücher schreibt, denn er muss sich ja die Deutungshoheit über sein Lebenswerk sichern", sagt er. Es liegt ein leiser Spott in diesem Satz, aber auch eine Bitte um Nachsicht mit dem Alten, der den Nachfolgern in seinem Buch Sätze zuruft wie den, dass bei seinem Abgang der Weg bereitet gewesen sei, "er hätte nur konsequent und im gemeinsamen, europäischen Geist weitergegangen werden müssen". Juncker ahnt wohl, dass solche Art, recht haben zu wollen, der richtigen Sache nicht hilft. Beim Fest auf dem Dorf ist es neulich ja auch so ausgegangen, dass die Jungen, als der Altbauer fertig war, auf die "gute alte Zeit" angestoßen und sich dann wieder ihrem Gespräch zugewandt haben. Der Altbauer hat verstanden und geschwiegen und mitgetrunken.Robert Birnbaum

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