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Ein Mitarbeiter von Amnesty International bei einer Freiwilligenbörse in Berlin

© Kitty Kleist-Heinrich

Exklusiv

Schlechter Umgang mit Mitarbeitern: Amnesty International stellt sich neu auf

Mobbing, Sexismus, hohe Arbeitsbelastung: Ein unabhängiger Bericht listet Probleme bei Amnesty auf. Die Führung der Menschenrechtsorganisation handelt jetzt.

Von Caroline Fetscher

Dieser Neuanfang fällt schwer, sein Anlass ist bitter. „Wir wissen, dass sich unsere Arbeitskultur ändern muss“. Mit diesem klaren Bekenntnis leitet Kumi Naidoo, Generalsekretär von Amnesty International in London seinen Bericht an die festen Mitarbeiter der Organisation ein, worin er tiefgreifende Reformen ankündigt, nicht weniger als „culture change“. Entstehen soll „ein gesünderes, angenehmeres und vertrauensvolleres Arbeitsumfeld“, eine innere Kultur, die den inhaltlichen, äußeren Anliegen besser entspricht. „Empowered, engaged and valued“ ist Naidoos Bericht an die Belegschaft überschrieben, was sich mit „ermächtigt, engagiert und wertgeschätzt“ übersetzen lässt. 

Notwendig geworden ist der Aufruf zum Aufbruch seit ein unabhängiger Report, der intern und öffentlich vorliegt, dem Management von Amnesty International schwere Vorwürfe zum Umgang mit Mitarbeitern macht. Der Ende Januar 2019 publik gewordene Bericht der Washingtoner KonTerra Group bezieht sich auf Aussagen hunderter Festangestellter, die über hohe Arbeitsbelastung, Mobbing, Sexismus und einen häufig rücksichtslosen Umgangston klagen, Verhältnisse, die sich über Jahre und Jahrzehnte eingeschliffen hatten – ausgerechnet bei denen, die sich beruflich Tag für Tag damit befassen, dass Menschen anderen Menschen unendliches Leid zufügen.

Der Report spricht von Problemen, die die Existenz der gesamten Organisation gefährdeten. Komplex greifen offenbar hausgemachte und arbeitsimmanente Risiken der Traumatisierung ineinander. Amnesty schien im Inneren auf ein psychisches Trümmerfeld zu blicken.  

Verschärft worden waren Spannungen, Druck und Belastung bei Amnesty durch ein globales Umbauprogramm, das den Fokus fort von der personellen Ballung in London hin zu Regionen auf der Südhalbkugel legte. Eingespielte Teams wurden aufgelöst, zahlreiche Mitarbeiter sollten aus Metropolen des Nordens umziehen in den Süden, erfahrene Kräfte hatten während der Phase der Dezentralisierung gekündigt.

„Zugleich befinden wir uns, wie alle Betriebe und Organisationen, mitten in der medialen Transformation“, sagt Thomas Schultz-Jagow, Leiter und Sprecher der Abteilung Kampagnen und Kommunikation im Hauptquartier in London. Der studierte Politologe und Historiker zuvor in gleicher Position bei Oxfam, beim World Wildlife Fund (WWF), bei Greenpeace Deutschland und Greenpeace International tätig. In der Ära der Tweets und ununterbrochen aktualisierten Online-Plattformen wird mehr Output verlangt, rascheres Reagieren gefordert, das Mithalten in der wachsenden Sphäre der Informationen und Kämpfe um mediale Aufmerksamkeit.

Sieben leitende Mitarbeiter boten Ende Februar 2019 ihren Rücktritt an

„Das ist teils auch eine Generationenfrage“, berichtet Schultz-Jagow. Gerade für langgediente Aktive mit viel Wissen und Erfahrung bedeutet die Digitalisierung eine Herausforderung. Unter anderem auf den Verlust gewohnter Teams und Arbeitsabläufe wurde der Suizid eines Amnesty-Mitarbeiters in seinem Pariser Büro im Mai 2018 zurückgeführt, wie ein weiterer, unabhängiger Report feststellte. Gaetan Mootoo hatte 32 Jahre lang bei Amnesty gearbeitet, er war Experte für afrikanische Staaten südlich der Sahara und hatte offenbar seinen sehr eigenen, aber effizienten Arbeitsstil. Dieser schien jedoch kaum kompatibel mit den Umstrukturierungen. Mootoos Abschiedsbrief nennt er als Grund für seinen Suizid – neben privaten Umständen - auch die hohe Belastung, der er nicht mehr standhielt.

Im Februar tauchte zudem noch eine massive Beschwerde der indischen Sektion auf, wo sich Teammitglieder aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer „niederen Kaste“ diskriminiert sehen, wie unter anderem der Guardian berichtete. Einen unabhängigen Report dazu erstellte Dr. Syeda Hameed.

Der Bericht zum Suizid des Kollegen hatte die Führung von Amnesty dazu bewegt, den „Staff Wellbeing Report“ bei KonTerra in Auftrag zu geben – mit den erschütternden Ergebnissen, denen die Führung sich jetzt stellt. Sieben leitende Mitarbeiter boten Ende Februar 2019 ihren Rücktritt an, darunter auch Schultz-Jagow. „Entschieden werden soll über die personellen Konsequenzen Ende April“, teilt er aus London im Telefoninterview mit dem Tagesspiegel mit. „Wichtig ist, dass die Belegschaft vorher ausführlich angehört wird.“

Offenbar erwarten die Mitarbeiter, dass Köpfe rollen, ehe der große Heilungsplan umgesetzt wird, der auf zwei Jahre angelegt ist. An der der Spitze wird man die Abwägung treffen müssen, ob bewährtes Personal sich neues Vertrauen verschaffen kann, oder bestimmte Kolleginnen und Kollegen sich als unhaltbar erweisen. Hohe Fluktuation auf der Leitungsebene kann gerade in Umbruchphasen ein doppeltes Risiko bedeuten: Institutionelles Wissen geht verloren, neuen Teammitgliedern fehlt das Archiv an Kenntnissen, wie es erfahrene besitzen.    

Rund 2500 Angestellte recherchieren und erstellen Länderreports

Beim Internationalen Sekretariat von Amnesty International arbeiten rund siebenhundert Festangestellte, die meisten in der Zentrale in London, weitere in den an die Zentrale angeschlossenen internationalen Büros wie Mexiko, Johannesburg, Dakar, Beirut und Hongkong. Daneben unterhalten die einzelnen Sektionen Länderbüros. Rund 2500 Angestellte recherchieren und erstellen Länderreports zur Lage der Menschenrechte. Unterstützt wird Amnesty von gut sieben Millionen engagierten Freiwilligen in 150 Staaten.

Die Organisation ist eine globale, ethische Instanz. Sie steht für den moralischen Anspruch, Verletzungen der Menschenrechte anzuprangern und sich für die Freilassung – Amnestie – politischer Gefangener einzusetzen. Umso wichtiger ist es, wie Schultz-Jagow erklärt, dass Amnesty sich an den eigenen Maßstäben auch im Inneren messen lässt. Dazu sei die Spitze unter Naidoo, der erst voriges Jahr Generalsekretär wurde, fest entschlossen. Und das erklärt auch die enorme Courage, den KonTerra Report zu veröffentlichen – ein großer, erster Schritt in Richtung Transparenz und Reform, der Respekt verdient.

Amnesty hat hochmotivierte Teams, „und wir werden in Zeiten des Populismus mehr gebraucht denn je“, so Schultz-Jagow. „Undemokratische Systeme nehmen zu, Meinungsfreiheit wird gedrosselt, rechter, linker und islamistischer Autoritarismus breitet sich aus.“ Selten war die Arbeit für Menschenrechte so wichtig. Umso wichtiger ist es, dass Menschenrechtler an erster Stelle für sich selber sorgen, um im Einsatz bleiben zu können.   

Zu den weitreichenden Reformplänen gehört es, fachliche, vor allem psychologische und systemische Beratung anzunehmen, um eine Art Großgruppentherapie auf den Weg zu bringen. Expertise wird Amnesty dazu aus den besten akademischen Quellen beziehen, die verfügbar sind. In Großbritannien werden psychologische Fachleute der Loughborough University und der Sheffield University die Prozesse begleiten, wo eine „Dignity and Respect at Work Interventions Group“ etabliert ist, die ab Juni 2019 Online-Training und ab August Workshops für Amnesty-Angestellte anbieten wird. 

Parallel soll ein Zweijahres-Programm mit drei der renommiertesten Universitäten in den USA anlaufen, der New York University School of Medicine, der Columbia Law School und der berühmten New School for Social Research, an der unter anderem Hannah Arendt lehrte. Der Schwerpunkt für dieses Programm soll, so Schultz-Jagow, auf dem Bereich „Menschenrechte und Resilienz“ liegen, wo Probleme spezifischer Arbeit wie der für Amnesty adressiert werden kann. 

„Viele legen sich einen professionellen Schutzpanzer zu.“

Auf Dauer angelegt sind Pläne für bessere Angebote zur Supervision und psychologischen Begleitung bei belastenden, potentiell traumatisierenden  Arbeitseinsätzen. „Das ist gar nicht so einfach“, weiß Schultz-Jagow. Dürfen Chefs jemanden direkt ansprechen, an dem oder der sie Änderungen im Verhalten bemerken? „Kann ich dann sagen: ´Du bist in letzter Zeit so still geworden, nimm doch Hilfe in Anspruch´?“ Kann das Management Workoholics mit einem Machtspruch in den Feierabend schicken, ins Wochenende, in die Ferien? Wann wirken Empfehlungen übergriffig oder bevormundend, wann gut und fürsorglich?

Vor zwei Jahren hatte die Londoner Führung unter 700 Mitarbeitern im internationalen Bereich etwa 110 ausgemacht, die besonders stark belastendem Material ausgesetzt sind. Sie sichten Berichte über Folter und Misshandlungen, Videos, Fotografien grauenvollen Inhalts. „Von den 110 wollten gerade einmal 15 oder 20 Hilfsangebote annehmen“, erinnert Schultz-Jagow: „Viele legen sich einen professionellen Schutzpanzer zu.“ Psychologen wissen allerdings auch, dass Eindrücke auch dann nicht „weg“ sind. Abgespalten bleiben Bilder im Unbewussten, je nachdem, wie sie emotionale verarbeitet werden können. Mehr analytisches Bewusstsein der Psyche zu haben ist in jedem Fall sinnvoll, hilfreich. Fortbildungen für Management wie Belegschaft können - und sollen bei Amnesty nun - die „emotionale Intelligenz“ trainieren, für Achtung, Respekt und Würde sorgen. Die Augen sollen geöffnet werden für psychische Alarmzeichen bei Kolleginnen und Kollegen, während ein professionelles Präventions- und Frühwarnsystem das Wohlergehen aller besser schützen soll.  Anderthalb Millionen Pfund sind bisher für die interne Transformation veranschlagt, und die Summe scheint noch nicht einmal besonders hoch, bedenkt man das Ausmaß der Causa.  

Amnesty steht vor der Aufgabe, eine habituell dysfunktionale Struktur in eine funktionale Struktur zu verwandeln. Insbesondere große Organisationen mit Mission tendieren dazu, ihre Aufgaben ernster zu nehmen als die Zufriedenheit der Aktiven. Fehlbarkeit und Schwächen aber gibt es überall, auch unter den ethisch Hochmotivierten und Wachsten. Prestige, Ego, Ehrgeiz, Privilegien, Sexismus, Rassismus, Kungeleien um Gehälter, Einsatzorte, Dienstreisen, Bürogröße, Spesen – all das spielt auch bei Menschenrechtlern oder Umweltschützern eine Rolle. Gerade dort kann diese Selbsterkenntnis besonders kränkend sein – und gerade dort ist fundiertes Wissen über individuelle und kollektive psychische Dynamiken von besonderer, gesellschaftlicher Relevanz.   

Also hofft nicht nur Thomas Schultz-Jagow, sondern auch Kumi Naidoo, dass das Bewältigen der existentiellen Krise von Amnesty International zu einer einmaligen Chance wird. Von den Resultaten und Erkenntnissen, die Amnesty nach und nach öffentlich machen will, sollen dann möglichst auch tausende andere mit ähnlichen Aufgaben profitieren können. 

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