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2005

© Torsten Leukert / vario images

Politik: An der Quasselstrippe

Es wird geredet und geredet. Am Dienstag startet die ARD ihre Talkshow-Offensive. Debattieren hat in Deutschland eine lange Tradition

Überall wird diskutiert: Im Fernsehen mit Günther Jauch und Anne Will, in der Schule mit der Deutschlehrerin oder im Restaurant mit Freunden. Zumindest in Deutschland. In anderen Ländern erzielen Gesprächssendungen geringere Einschaltquoten, zählt im Unterricht das Memorieren mehr als die eigene Meinung und beim Drei-Gänge-Menü wird Dissens eher gekonnt umschifft als kultiviert. Wenn dann hierzulande über ein „Zuviel“ an Diskussion lamentiert wird, sind die Schuldigen oft erstaunlich rasch ausgemacht. Es sind die 68er und 68erinnen, so scheint es, welche das Land mit ewigen Gesprächen überzogen haben, die ab Dienstag, wenn die ARD mit Sandra Maischberger ihre Offensive zur täglichen Talkshow startet, ihren Höhepunkt erreicht haben. 68er waren es, die in der Studentenbewegung der 60er Jahre Professoren, Politiker oder unbescholtene Nachbarn mit der Forderung nach Diskussion konfrontierten und verunsicherten. Sie waren es, die später im Rahmen der Schulreformen der 70er Jahre eifrig darangingen, aus Fächern wie Deutsch und Geschichte Laberfächer zu machen. Und sie waren es schließlich, die ihren Nachwuchs schon im Kindergartenalter um seine Meinung baten und ihn mit der Illusion überforderten, man könne über alles auf Augenhöhe reden.

Als daher das Magazin NEON vor ein paar Jahren seine noch junge Leserschaft „über die 68er-Spleens ihrer Eltern“ schreiben ließ, lautete das Motto: „Du, lass uns mal drüber reden“. Und als der Journalist Reinhard Mohr in den 90er Jahren beschrieb, wie die alte Bundesrepublik zu einer „diskutierenden Gesellschaft“ geworden sei, in welcher der Philosoph Jürgen Habermas zwar keine Fernsehdrehbücher schrieb, aber selbst die Kommissare Schimanski und Thanner an der Currywurstbude über Geltungsansprüche diskutierten, da meinte er, den Beginn dieser Entwicklung präzise datieren zu können: „Schluss mit dem Quatsch! Jetzt wird erst mal diskutiert! – was 1967/68 als subversive Aktion auf Unternehmerversammlungen, in Staatstheatern und Kirchen anfing, war inzwischen der kategorische Imperativ der ganzen Gesellschaft geworden.“ Aber auch 68er und 68erinnen selbst nehmen für sich in Anspruch, aus einem Deutschland, in dem geschwiegen und befohlen wurde, quasi über Nacht aus eigener Hand ein diskussionsfreudiges Land gemacht zu haben. „Bis dahin“, so die Journalistin Barbara Sichtermann in einem Essay über „68“ aus der Innenperspektive der Akteure, „galten Hierarchien als Einbahnstraßen – von oben kamen Befehle, unten wurde gehorcht.“ Aber das änderte sich mit einem Schlag und eine „Ära unerhörter Diskussionen begann, ein wölfischer Debattenhunger brach aus.“

Richtig an diesen Beobachtungen ist, dass Diskussionsbereitschaft, Diskussionsdichte und sogar Diskussionsfreude eine Geschichte haben – und diese Geschichte ist in Deutschland im 20. Jahrhundert voller Wendungen und Überraschungen gewesen. Falsch aber ist, die Aufwertung von Diskussionen als Ergebnis einer Willensanstrengung weniger lesen zu wollen, die das vermeintlich herrschaftsfreie Potenzial argumentativer Gespräche erkannten und diese Erkenntnis dann umsetzten. Denn erstens sind argumentative Gespräche genau wie andere Arten von Gesprächen auch nie herrschaftsfrei, sondern von Macht gezeichnet – das Kind, das sich in der Diskussion mit den Eltern nicht durchzusetzen vermag, kann hiervon genauso ein Lied singen wie die Studentin, deren Redebeiträge ungehört verpuffen. Zweitens verändern sich kommunikative Routinen nur sehr langsam, man wird also Jahrzehnte und vielleicht Jahrhunderte betrachten müssen statt weniger Jahre. Und drittens waren die Protagonisten der Studentenbewegung der späten 60er Jahre beileibe nicht die einzige und erste, sondern höchstens die lautstärkste Personengruppe, die sich in der alten Bundesrepublik dezidiert um eine Aufwertung von Diskussionen als alltäglichem Handlungsmodus bemühte. Denn tatsächlich hat das Handlungsmuster Diskussion im gesamten 20. Jahrhundert in unterschiedlichsten Praxisfeldern eine sukzessive Aufwertung erfahren – das lässt sich anhand unterschiedlichster Quellen von Ton- und Filmaufnahmen über Akten und Tagebücher bis hin zu Umfragen der empirischen Sozialforschung zeigen. Diese Entwicklung erfuhr nur in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten einen besonderen Schub: Die Geschichte des Versuchs, Bundesbürgerinnen und -bürger zum Diskutieren zu bewegen, geht bis in die ersten Nachkriegsjahre zurück.

Veranschaulichen lässt sich diese These an der Geschichte des Fernsehens. In der alten Bundesrepublik flimmerten die ersten Diskussionssendungen in den frühen 50er Jahren über die Bildschirme. Die Verantwortlichen wollten das Publikum keineswegs nur gut unterhalten oder politisch bilden. Vielmehr wollten sie breite soziale Schichten für den moderierten Meinungsaustausch unter Andersdenken als genuin demokratische Kulturtechnik gewinnen. Ziel des jungen Sendeformats war es, dem Publikum jene Freude zu vermitteln, die ein argumentatives Gespräch gerade dann bereiten kann, wenn man nicht einer Meinung ist. Es ging um die „Verführung zur Diskussion“. So formulierte es der westdeutsche Journalist Werner Höfer, der die legendärste und langlebigste Diskussionssendung im deutschen Fernsehen moderierte, den „Internationalen Frühschoppen mit sechs Journalisten aus fünf Ländern“. Jede Woche lud Höfer mehrere Auslandskorrespondenten in sein Studio ein, um mit ihnen bei Weißwein und Tabakqualm aktuelle politische Themen zu bereden. Seit 1952 wurde die Reihe im Rundfunk übertragen, nach 1953 parallel dann auch im Fernsehen. Erst 1987 musste Höfer die Leitung aufgeben, allerdings nicht wegen sinkender Einschaltquoten, sondern weil seine nationalsozialistische Vergangenheit zum Skandal geworden war. Schon lange vorher bildete der Internationale Frühschoppen ein generationen- und schichtenübergreifendes Sonntagsritual. Über mehrere Dekaden schalteten Millionen Haushalte sonntags um 12.00 Uhr das Radio oder den Fernseher ein, um Höfers Runde zu verfolgen. Manche verschoben sogar das Mittagessen um eine Stunde nach hinten, um den männerbündischen Schlagabtausch auf dem Bildschirm oder am Radio zu verfolgen. Sie alle lernten, dass Dissens ein Gespräch nicht gefährdet, sondern ihm erst die rechte Würze verleiht.

Vielen Menschen aus der alten Bundesrepublik ist der Internationale Frühschoppen bis heute ein Begriff. Kaum aber jemand weiß, dass die Konzeption der Sendereihe nicht einer plötzlichen journalistischen Eingebung folgte, sondern in Teilen Effekt eines breit angelegten politischen Programms war. Gemeint ist die „Reeducation“, die Demokratisierungspolitik der alliierten Westmächte, welche nach Kriegsende versuchten, den Westdeutschen demokratische Einstellungen und Verhaltensweisen zu vermitteln. Dazu zählte man die Bereitschaft und auch die Fähigkeit, Meinungsdifferenzen zu akzeptieren und mit Andersdenkenden weder in einen Kampf noch in einen Streit einzutreten, sondern in ein für beide Seiten anregendes und produktives Gespräch. Vor allem die amerikanische Besatzungsmacht entwickelte sehr konkrete Pläne, die besiegten Deutschen „Die Kunst der Diskussion“ zu lehren. So lautete der Titel einer Ratgeberschrift, die 1948 in der amerikanischen Besatzungszone verlegt wurde. Die Broschüre gab Tipps für den formalisierten Meinungsaustausch in der Gruppe – etwa in Form einer Podiumsdiskussion vor großem Publikum oder einer Gruppendiskussion im kleinen Kreis. In knappen Merksätzen erfuhren Leserinnen und Leser, was dabei zu beachten sei: Der Moderator habe dafür zu sorgen, dass alle Beteiligten beim Thema blieben, sich nicht ins Wort fielen und ansatzweise gleichmäßig zu Wort kämen. Es gelte aber auch, eine positive Atmosphäre zu schaffen. Schüchterne Menschen sollten humorvoll aufgelockert, wortgewaltige Diskutanten nicht mit purer Autorität, sondern subtil gebremst werden. Man könne sie etwa mit dem Hinweis unterbrechen, das bereits Gesagte sei so wichtig, dass es zunächst der Vertiefung bedürfe.

Aber auch all jene, die nicht moderierten, hatten sich an Regeln zu halten. Unter anderem wurde sie ermahnt, ihre Meinung nicht im Voraus auszuarbeiten oder gar schriftlich auf einem Spickzettel zu fixieren, da lange Reden für ein anregendes Gespräch ebenso schädlich seien wie Rechthaberei. Man solle kurz, prägnant und spontan sprechen, vor allem aber zuhören und zum Umdenken bereit sein. Es gehe nicht darum, eine bestimmte Meinung durchzusetzen, sondern seine Ansichten erst noch zu entwickeln und durch das Gespräch zu lernen: sowohl über das zur Diskussion stehende Thema wie über die Menschen, die sich an ihm beteiligten. Am Ende einer guten Diskussion stünde daher – so das Ideal – keineswegs notwendig ein Konsens und erst recht keine Einteilung in Sieger und Verlierer. Wichtig sei vielmehr die Einsicht, verschiedene Meinungen gelten zu lassen, um gerade aus dem Dissens heraus Freundschaften zu schließen und den Horizont zu erweitern. Teile der Besatzungsmacht suchten dieses Gesprächsideal sowohl theoretisch als auch praktisch zu vermitteln – Frauen wie Männern, Kindern und Jugendlichen ebenso wie Erwachsenen, den Eliten ebenso wie den mittleren und unteren Schichten der Gesellschaft. Die Ziele und Regeln formalisierter Diskussionsrunden wurden auch im Vorprogramm der Kinos erläutert – im Rahmen kurzer Lehrfilme. Außerdem wurden Kurse für Lehrer, Pädagogen oder Journalisten angeboten, die dem Erlernen der „Diskussionstechnik“ dienen sollten. Dieses „learning by doing“ vollzog sich ebenso in Amerikahäusern, Filmklubs, Schulen und Volkshochschulen, aber auch in ausgewählten Kriegsgefangenenlagern, wo Diskussionsgruppen ganz unterschiedliche Themen erörterten. Parallel wurden die amerikanisch kontrollierten Rundfunksender aufgefordert, Diskussionssendungen zu übertragen, um die Kunst des argumentativen Gegen- und Miteinanders zu veranschaulichen.

Die transatlantischen Anregungen wurden von westdeutschen Eliten nicht nur skeptisch beäugt, sondern teilweise durchaus begrüßt, kreativ angeeignet und über die Besatzungszeit fortgetrieben. So bildeten formalisierte Diskussionsgruppen, Forums- und Podiumsdiskussionen schon ab den frühen 50er Jahren ein festes Veranstaltungsformat in den Massenmedien und im Bildungswesen, wenngleich sich kommunikative Routinen in den Gymnasien oder in den Familien nur sehr punktuell veränderten. Aber genau dieser Kontrast scheint auf die jüngeren Generationen Eindruck gemacht zu haben. Sie wuchsen in einem Land auf, welche das Diskutieren in vielen Bereichen unterband, zugleich aber gezielte Möglichkeiten schuf, das Diskutieren regelrecht zu lernen. Zahlreiche Quellen deuten darauf hin, dass sich die Kommunikationskultur vor diesem Hintergrund in den ersten drei Nachkriegsdekaden massiv veränderte, genauer: diskursivierte. Der Handlungsmodus „Diskussion“ erfuhr auch und gerade jenseits des Parlaments eine deutliche Aufwertung in Westdeutschland, eine Tendenz, welche im kommunikativen Habitus der Neuen Linken nicht angestoßen, sondern lediglich auf die Spitze getrieben und mit besonderem Eifer in den Bereich des Privat-Intimen fortgetrieben wurde. Wenn der eingangs bereits zitierte Reinhard Mohr, der etwas nach der 68er-Generation das Licht der Welt erblickte, als Jugendlicher in den 70er Jahren die „Älteren“ bewunderte, dann auch deshalb, weil sie „in Wohngemeinschaften lebten und über Orgasmusschwierigkeiten diskutierten.“

Didaktischer Wille allein reichte für diese Institutionalisierung argumentativer Umgangsformen aber nicht aus. Dem Soziologen Thomas Luckmann zufolge gerinnt mündliche Kommunikation trotz ihrer vermeintlichen Flüchtigkeit zu festen Mustern des Alltags. Dabei schafft sich jede soziale Gruppe genau jene kommunikativen Muster, die sie braucht, weshalb man in manchen Kreisen Witze erzählen, in anderen dagegen diskutieren können muss. Offenbar brauchten die Menschen der alten Bundesrepublik das Diskutieren in besonderem Maße – aber wozu eigentlich? Sie brauchten es, um strittige Fragen einer demokratisch legitimierten Lösung zuzuführen. Sie brauchten es aber auch, um sich symbolisch von ihrer mörderischen Vergangenheit zu distanzieren. Denn die Bereitschaft zur Diskussion diente in der Nachkriegszeit zur Abgrenzung vom negativen Bild des Nationalsozialisten, der keinen Widerspruch geduldet und im Einklang von Befehl und Gehorsam Millionen Menschen getötet hatte. Indem die Westdeutschen das Diskutieren kultivierten, bewegten sie sich in ihren alltäglichen Handlungsroutinen immer mehr auf den als diskussionsfreudig interpretierten Westen zu. Damit verwischten sie die habituellen Spuren ihrer eigenen, dunklen Vergangenheit. Diskussionsbereitschaft war in diesem Land also mehr als bürgerliche Pflicht. Sie wurde zum Ausweis westlicher Demokratiefähigkeit und moralischer Überlegenheit. Das erklärt die Euphorie, aber vielleicht auch den normativen Erwartungsüberschuss, mit denen in der Spätphase der alten Bundesrepublik linksalternative Selbsthilfegruppen Beziehungsprobleme in der Gruppe „auszudiskutieren“ trachteten, während der Philosoph Jürgen Habermas im „herrschaftsfreien Diskurs“ die Grundlage jeglicher Wahrheitsfindung sah.

Heute wirkt dieser Diskussionseifer in manchen Bereichen noch nach, aber er ist insgesamt abgeflaut und zum Gegenstand heftiger Kritik geworden. An den Universitäten sind Debattierklubs entstanden, die sich mit knappen Redezeiten und einer straffen Gesprächsführung auch als Gegenbewegung zum Endlosgerede der Talkshows verstehen. In der Schule hat Pisa jenen den Rücken gestärkt, die den Kindern Stoff vermitteln wollen anstatt mit offenen Gesprächen Zeit zu vertändeln. Und neue Benimmbücher, die seit einigen Jahren hohen Auflagen erzielen, lehren die Maxime, man solle als Gast bei einem Abendessen mit der eigenen Meinung auch einmal hinter den Berg halten, anstatt die Stimmung durch einen argumentativen Schlagabtausch zu belasten – genau wie ihre Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert. Diskussionslust ist eben keine Selbstverständlichkeit, ihre Geschichte ist kein linearer Prozess und ihre Zukunft ist völlig offen.

Nina Verheyen

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