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Politik: An die Arbeit

Der bislang fade französische Wahlkampf ist in Fahrt gekommen. Den Schlagabtausch der beiden Hauptkonkurrenten um das Präsidentschaftsamt hatte der sozialistische Premierminister Lionel Jospin eröffnet.

Der bislang fade französische Wahlkampf ist in Fahrt gekommen. Den Schlagabtausch der beiden Hauptkonkurrenten um das Präsidentschaftsamt hatte der sozialistische Premierminister Lionel Jospin eröffnet. Er sagte, Staatspräsident Jaques Chirac (69) habe "viel von seiner Energie verloren", sei "deutlich gealtert" und zeige "einen gewissen Abnutzungseffekt". Der neogaullistische Präsident konterte mit Sachargumenten und warf Jospin vor, während seiner fünfjährigen Amtszeit Frankreich kaum einen Schritt weitergebracht zu haben - vor allem bei den Themen Sicherheit, Renten und Steuern. Frankreich, sagte Chirac, habe an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Das Land sei beim Wohlstand pro Einwohner in der EU auf Platz 14 gerutscht, "weil bei uns immer weniger gearbeitet wird".

Chirac bezog sich dabei vor allem auf die Einführung der 35-Stunden-Woche, die seit Anfang 2000 gilt. Sie ist im Wahlkampf zu einem Hauptthema geworden, wie der anhaltende Protest der Lastwagenfahrer zeigt. Denn dieses Projekt, in Frankreich kurz RTT genannt (Reduction Temps Travail), ist weit davon entfernt, Realität zu sein. Die Zeitung "Liberation" schreibt : "RTT, eine Revolution, aber nicht für alle." Nicht zum Beispiel für die jetzt protestierenden Fernfahrer: Das Dogma der 35-Stunden-Woche führt dazu, dass den Brummifahrern nur die Stunden am Steuer, nicht aber Pausen oder Phasen als Beifahrer bei Langstreckenfahrten als Arbeitszeit angerechnet werden sollen. Bei der Post sind für die Auslieferung eines Briefes statt drei nur noch 1,5 Minuten vorgesehen. Obwohl sich der Arbeitsanfall mit ständig wachsenden Postmengen deutlich erhöht hat, wurde bei gleich bleibendem Personal die Arbeitszeit verkürzt. Eine Warnung für hunderttausende Angestellte im Gesundheitswesen, wo die 35-Stunden-Woche noch bevorsteht. Klagen gibt es auch von Lehrern, Gefängniswärtern und Polizisten.

Die ursprünglich als soziale Reform zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit gedachte Arbeitszeitverkürzung spaltet die französische Gesellschaft in zwei Lager. Die Gewinner sind die Angestellten in der Privatwirtschaft, in Betrieben mit mehr als 20 Beschäftigten. Fast neun Millionen von ihnen genießen heute schon die Vorzüge einer quasi Vier-Tage-Woche: Mütter und Väter kümmern sich mehr um ihre Kinder, verlängerte Wochenenden, Fitness-Studios und Kinos sind nicht nur am Abend voll.

Zu den Verlierern der 35-Stunden-Woche gehören die rund 20 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in Frankreich mit Niedrigeinkommen von unter 1500 Euro im Monat. Ihnen fehlt das Geld für die zusätzlich gewonnene Freizeit. Sie würden lieber länger arbeiten, Überstunden machen. Auf sie und auf die Arbeitgeber der rund zwei Millionen Angestellten stürzen sich jetzt im Wahlkampf die konservativ-liberalen Parteien. "Kein Dogma, keine Ideologie, zurück zu natürlichen Arbeitsbedingungen", fordert Staatspräsident Jacques Chirac und befürwortet eine Lockerung der 35-Stunden-Bestimmungen, deren "autoritäre Durchsetzung" er seinem Wahlkampfgegner Lionel Jospin vorwirft. Für ein Zurück ist es längst zu spät: Die Bäckereien in Paris haben im Rahmen einer konzertierten Aktion neuerdings an zwei Wochentagen geschlossen. Während der eine Bäcker der 35-Stunden-Woche frönt, backt der andere das Baguette.

Sabine Heimgärtner

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