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Zerstörte Scheibe am BVB-Mannschaftsbus - der Attentäter wollte großen Schaden anrichten.

© dpa/Bernd Thissen

Anschlag auf BVB-Team: Der Attentäter von Dortmund ist ein Kind unserer Zeit

Sergej W. wollte schnell reich werden und bediente sich brutaler Mittel. Mit seinem perfiden Plan führt er uns die fatalen Dynamiken der heutigen Börsenspekulationen vor Augen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Auf den Kurs einer Aktie wollte der Attentäter spekulieren. Ein junger Mann, 28 Jahre alt, schmiedete einen Plan: Rasch reich werden, über Leichen gehen. Investiert hatte Sergej W. neben ein paar Tausend Euro für die Wertpapiere noch in einige Kilo Sprengstoff, Hotelkosten und eine Handvoll freier Tage. Eine Explosion sollte es geben, Menschen sollten zu Schaden kommen, ob tot oder verletzt, Fußballspieler, die dann nicht mehr trainieren und spielen könnten. Dann würde der Kurs ihrer Vereinsaktie fallen. Und dann würde er abkassieren. Sergej W. spekulierte wohl auf die Folgen eines Unglücks, das er selber zu dem Zweck provozieren wollte. Aus Habgier.

Pure Habgier war, soweit man es bisher weiß, das Motiv hinter dem Attentat auf den Mannschaftsbus der Spieler von Borussia Dortmund. Plan, Handeln, Attentat folgten reiner Profitlogik, vollkommen abgekoppelt von der Vorstellung, was es bedeutet, wenn ein Mensch stirbt oder schwere Wunden zu versorgen sind. Jede Verbindung zu einer anderen Wirklichkeit als einem Stapel Geld muss gekappt sein, um eine Tat dieser Art zu begehen.

Eine tückische Qualität des Spätkapitalismus

In Sergej W.s Leben war vieles gut gelaufen. Als er ein Teenager war, sind die Eltern mit ihm ausgewandert. Sie zogen von der Industriestadt Tscheljabinsk mit ihren maroden Rüstungs- und Traktorfabriken im Südural in den schwäbischen Schwarzwald. Deutschland verhieß mehr Glück und Chancen. Der Sohn zeigte Fleiß, lernte die Sprache, schloss Schule und Lehre ab. Zuletzt war der talentierte Sergej W. offenbar am Heizkraftwerk der Universität Tübingen als Elektriker beschäftigt. Mit 14 Jahren ausgewandert und 14 Jahre später angekommen, in jeder Hinsicht. Dann, am 11. April, kaufte er online Optionsscheine mit Derivaten auf die BVB-Aktie und sicherte sich die Option, die Wertpapiere bis Mitte Juni zu einem höheren Preis zu verkaufen.

Erfunden hat dieser Mann die Kombination aus Gier, Verbrechen und Hochrisikogeschäft jedoch nicht. Gier ist ohnehin so alt wie die Gattung Mensch, von Jakob und Esau bis zum Lohndumping der Gegenwart. Doch verhüllt in Spekulation auf „Futures“, auf künftige Preisentwicklungen, weist die alte Habgier eine neue, eine tückische Qualität des Spätkapitalismus auf. Als aggressive Finanzinstrumente werden Geschäfte mit „Futures“ bezeichnet, und Sergej W., der sich auch ökonomisch fortgebildet haben wird, erscheint wie die lebende Allegorie der Gefährlichkeit dieser Art der realitätsverachtenden Gier.

Ein gigantischer, surrealer Zirkus

Im Thrill des Spekulierens, wie er früher auf dem Parkett der Warenterminbörse „London International Financial Futures and Options Exchange“ (LIFFE) zu erleben war, scheint jeder Kontext der Waren mit der Wirklichkeit wie gelöscht. Die Erfahrung ist unvergesslich, ein gigantischer, surrealer Zirkus. Durcheinander schreiende Händler in grellbunten Anzüge, damit sie auf dem Parkett von den Rängen aus dirigiert werden können, wo Bieter und Käufer an Telefonen und Laptops sitzen. Man verständigte sich mit Rufen, Gesten, rings ums Parkett Bildschirme mit Daten zu Kursen von Agrarrohstoffen. Ein Parketthändler konnte einem anderen in Blitzesschnelle signalisieren: Ich kaufe von Dir Weizen für einen Preis X pro Tonne bis zum Tag X – und Millionen Dollar wechselten die Besitzer.

Was heute via Computer erledigt wird, kann, etwa bei Weizentermingeschäften, Monate danach für Hunderttausende in Dörfern und auf Feldern viele Flugstunden entfernt, fatale Folgen haben wie explodierende oder abstürzende Preise für Grundnahrungsmittel, die zu Hungersnöten führen, zu Elend oder Tod. Diese Dynamiken, die im Börsengeschehen ausgeblendet und abstrakt bleiben, führt uns die Tatplanung des Deutsch-Russen konkret und direkt in aller Grausamkeit vor Augen.

Heute verhungert an Geldgier ein Unbekannter in der Ferne

Kritiker, nicht nur Occupy-Protestler, sondern auch wissenschaftliche Experten, beklagen seit Langem die katastrophalen Konsequenzen von derlei Geschäften für globale Warenströme. Eine Ursache dafür, dass sie weiter getätigt werden, ist die brutalisierende Entkoppelung von Handeln und Wirkung. Das Handeln entspringt der Gier, die Folgen bleiben den Handelnden unbewusst.

Vor Gier gewarnt hat einst die griechische Sage von König Midas, dem Dionysos aus Dankbarkeit einen Wunsch erfüllen wollte. Midas’ Gier überschlug sich, er kalkulierte, spekulierte auf Schätze, auf ein Leben, in dem jede Regung reich machen würde. „Schaffe“, sagte er, „dass alles, was mein Leib berührt, in funkelndes Gold sich wandle.“ Gewünscht, erfüllt. Allerdings verwandelten sich auch Getreide, Wasser und Obst, schlicht alles, was Midas essen und trinken wollte, in ungenießbares Gold. Midas musste verhungern.

Heute verhungert an Geldgier kein Midas, sondern ein Unbekannter in der Ferne. Blitzartig, wie in einem Sinnbild hat der Elektriker Sergej W. mit seinem Kurzschluss-Plan eben diese unsichtbare, klaffende Lücke zwischen Geldgier und Realität, Profitstreben und Ethos beleuchtet. Sergej W., soviel steht fest, ist ein Kind unserer Zeit.

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