
© dpa/Carsten Koall
Aufbruch in Ostdeutschland: Wir können Zukunft!
Ostdeutschland hat ein Imageproblem. Es fehlt ein ausgewogenes Bild. Warum wir mehr über die Kreativität und Chancen der Region sprechen müssen, erklärt die Ostbeauftragte der Bundesregierung.
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Diese Begegnung ist mir im Gedächtnis geblieben: Bei den Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in Saarbrücken sprachen mich zwei junge Frauen an. Sie könnten sich vorstellen, sagten sie, für Ausbildung oder Studium in den Osten zu gehen. Aber sie hätten Zweifel, weil in der Öffentlichkeit eher nur die schwierigen Seiten des Ostens dargestellt würden.
Solche Vorbehalte sind nicht neu. Der Osten hat ein Imageproblem, weil er jahrelang vorwiegend mit Strukturschwächen, Rechtsextremismus und der DDR-Vergangenheit in Verbindung gebracht wurde. Es fehlt ein ausgewogenes Bild des Ostens.
Darunter hat auch das Selbstbild der Ostdeutschen gelitten. Dabei ist der Osten viel mehr – eine Region des Wandels, der Innovation, der Gestaltungsräume. Es ist an der Zeit, die Perspektive zu wechseln und stärker die Chancen Ostdeutschlands ins Zentrum zu rücken. Wir Ostdeutschen haben viele Gründe, ruhig etwas selbstbewusster zu sein.
Seit 35 Jahren ist die Region konstant in Bewegung. Die Zeit nach 1990 brachte harte Brüche mit sich, aber auch Freiräume und Gestaltungsmöglichkeiten. Und sie werden genutzt. Zum einen finden hier Zukunftstechnologien ihren Platz.
So wächst in Dresden das europäische Zentrum der Halbleiterindustrie dank Firmen wie Infineon oder TSMC. In Magdeburg stehen große Industrieflächen für neue Ansiedlungen bereit, auch die vielen erneuerbaren Energiequellen sind ein Standortfaktor. Die Lausitz verwandelt sich von der Braunkohleregion zum Forschungsstandort.
In Cottbus entstehen eine medizinische Universität und ein neuer Wissenschafts- und Wirtschaftspark, in Görlitz wird das Deutsche Zentrum für Astrophysik gebaut. Und vor der Küste Mecklenburg-Vorpommerns wachsen die Offshore-Windparks.
Zum anderen ist die Region traditionell geprägt von Ingenieurs- und Industriekompetenz: Im brandenburgischen Dahlewitz baut Rolls-Royce Flugzeugtriebwerke für den Weltmarkt. In Jena entwickelt Carl Zeiss Medizintechnik und Optik, und im sächsischen Glashütte werden feinste Uhren gefertigt. An guten Arbeitsplätzen mangelt es nicht.
Der Osten bietet Lebensqualität
Woran es mangelt, sind Fachkräfte, um diesen Aufschwung auch in Zukunft zu sichern. Für sie bietet der Osten echte Lebensqualität: bezahlbaren Wohnraum, gute Kinderbetreuung – und eine tolle Natur. Die Umwelt hat sich von den Verschmutzungen zu DDR-Zeiten längst erholt. Aus dem ehemaligen Mauerstreifen ist ein grünes Band geworden. Und Braunkohle-Tagebaue haben sich in weite Seenlandschaften zur Naherholung verwandelt.
Der Aufbruch Ostdeutschlands spiegelt sich auch in der Kultur wider. Es ist kein Zufall, dass Chemnitz 2025 als Europäische Kulturhauptstadt einlädt. Immer mehr junge ostdeutsche Kreative erzählen von ihrer Herkunft und ihrem Blick auf die gesamtdeutsche Gegenwart. Die Autoren Paula Fürstenberg oder Lukas Rietzschel zum Beispiel, Musiker wie die Band Kraftklub und Künstlerinnen wie Henrike Naumann oder Sung Tieu. Der Osten spricht mit neuer Stimme – frech, einfühlsam und vielfältig.
Dieser Erfolg des Ostens ist hart erarbeitet. Nach der Wiedervereinigung musste sich eine ganze Gesellschaft neu orientieren. Betriebe schlossen. Viele Menschen mussten umlernen, nicht wenige wurden arbeitslos. Doch sie gaben nicht auf. Sie lernten, den Wandel zu gestalten. Diese Fähigkeit, sich immer wieder neu zu erfinden, macht den Osten auch für zukünftige Herausforderungen widerstandsfähig.
Die breite Mitte im Osten lehnt den Rechtsextremismus ab. Das haben nicht zuletzt die zahlreichen Demos gegen Rechts […] gezeigt. Daraus kann eine neue demokratische Bewegung erwachsen.
Elisabeth Kaiser, Ostbeauftrage der Bundesregierung
Mit dem Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation in Halle (Saale) schaffen wir einen Raum, um diese Erfahrungen sichtbar zu machen und darüber ins Gespräch zu kommen. Weil wir die kommenden Veränderungsprozesse – Digitalisierung, Energiewende, Strukturwandel – nur gemeinsam bewältigen können. Und weil von den Lehren dieses Wandels ganz Deutschland profitieren kann.
Die Länder Mittel- und Osteuropas werden eng ins Zukunftszentrum eingebunden. Schließlich teilt Ostdeutschland mit Osteuropa die Erfahrung des Neubeginns nach dem Ende des Kalten Krieges. Ohne die Freiheitsbewegungen in Polen oder Ungarn wäre auch die friedliche Revolution in der DDR nicht möglich gewesen.
Heute verbindet uns mehr als nur die gemeinsame Geschichte: wirtschaftliche Beziehungen, kulturelle Nähe und das europäische Projekt. Das bekommt auch mit Blick auf unsere gemeinsame Sicherheitsarchitektur eine ganz neue Bedeutung. Die deutsche Handelsbilanz mit den Visegrád-Staaten übersteigt mittlerweile die mit den USA. Ostdeutschland ist hier Brückenbauer – zwischen West- und Osteuropa, zwischen Erfahrung und Aufbruch.
Demokratie stärken durch mehr Teilhabe
Und sogar wenn es um das Thema Demokratie geht, kann Ostdeutschland Vorreiter sein. Zwar haben die Ostdeutschen weniger Vertrauen in Parteien und Institutionen. Doch der Demokratie als Staatsform stimmen fast hundert Prozent zu. Dass Freiheit und Demokratie keine Selbstverständlichkeit sind, wissen die Ostdeutschen aus Erfahrung. Bei den Kommunalwahlen 2024 war im Osten fast die Hälfte der neuen Bürgermeister parteilos. Das zeigt: Menschen wollen Verantwortung übernehmen, stehen aber den klassischen Strukturen häufig skeptisch gegenüber.
Unser Land lebt aber von einer repräsentativen Demokratie mit starken, lebendigen Parteien. Dafür müssen wir die Menschen begeistern. Wir müssen die Demokratie stärken, indem wir sie durch neue Formen der Teilhabe ergänzen. Zum Beispiel können kommunale Bürgerräte nicht nur Entscheidungen erleichtern, sondern auch erste Begegnungen mit politischen Prozessen, Diskussionen und Kompromissen ermöglichen. Hier kann der Osten zum Demokratie-Labor werden.
Mut macht mir auch, wenn ich sehe, wie stark das Engagement vieler Menschen ist, die in ihren Vereinen und Projekten Verantwortung für die Gemeinschaft und die Demokratie übernehmen. Der Engagementpreis „machen!“, den ich verleihe, würdigt genau diese Haltung. Sie ist das Fundament einer lebendigen Demokratie. Die breite Mitte im Osten lehnt den Rechtsextremismus ab. Das haben nicht zuletzt die zahlreichen Demos gegen Rechts im vergangenen Jahr gezeigt. Daraus kann eine neue demokratische Bewegung erwachsen.
Der Osten hat gezeigt, dass Wandel möglich ist, wenn man ihn selbst aktiv gestaltet. Seine Bürgerinnen und Bürger haben Mut bewiesen, Hürden überwunden und Neues geschaffen.
Elisabeth Kaiser, Ostbeauftrage der Bundesregierung
Ostdeutschland hat sich in den vergangenen 35 Jahren neu erfunden. Doch die Erfolgsgeschichte darf nicht verdecken, dass es weiter Unterschiede zwischen Ost und West gibt. Beispielsweise liegen die Löhne im Schnitt noch 17 Prozent unter Westniveau, Vermögen und Erbschaften sind ebenfalls deutlich geringer.
Als Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland sehe ich darin nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Die Bundesregierung arbeitet daran, diese Kluft zu verringern – durch Investitionen in Infrastruktur, Forschung und Industrie, durch einen höheren Mindestlohn, stärkere Tarifbindung und die Förderung von Eigentum.
Unser Ziel ist es, dass Menschen überall in Deutschland gut leben können, egal ob in Ost oder West, auf dem Land oder in der Stadt. Auch wollen wir mehr Ostdeutsche in Führungspositionen bringen und gehen dabei als Bund mit gutem Beispiel voran.
Der Osten hat gezeigt, dass Wandel möglich ist, wenn man ihn selbst aktiv gestaltet. Seine Bürgerinnen und Bürger haben Mut bewiesen, Hürden überwunden und Neues geschaffen.
Ich wünsche mir, dass darüber viel mehr gesprochen wird, und nicht nur über die unbestrittenen Herausforderungen. Dann kann Ostdeutschland sein Potenzial noch besser entfalten.
Und junge Saarländerinnen müssen nicht zweimal überlegen, ob sie dem Osten eine Chance geben.
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