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Politik: Aufräumen mit Legenden der SED-Geschichte

Die Sicht des früheren Dresdener OB Berghofer

Von Matthias Schlegel

Berlin - Es ist Insiderwissen, das Wolfgang Berghofer ausbreitet – obwohl der ehemalige Oberbürgermeister von Dresden und frühere SED-Funktionär seit 17 Jahren kein Insider mehr ist. Seit er am 20. Januar 1990 aus der SED ausgetreten ist, gilt er den einen als Wendehals, den anderen gar als Verräter. Dass dieser Mann nach seinem Buch mit persönlichen Erinnerungen von 2001 jetzt erneut die Öffentlichkeit sucht, um an entscheidende Vorgänge in der kollabierenden SED am Jahresende 1989 zu erinnern, begründet der 64-Jährige so: Er wolle in seinem letzten Lebensdrittel seinen Beitrag für die historische Forschung leisten, weil es an der Zeit sei, „mit einigen Legenden der SED-Geschichte aufzuräumen“.

In seinem Interview im diesjährigen Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung wie auch bei einer Veranstaltung dieser Tage in der Thüringer Landesvertretung wird schnell klar, mit welchen in anderthalb Jahrzehnten gereiften Erkenntnissen er gegen Legendenbildungen antritt: Die SED sei am Ende des Jahres 1989 nicht nur unfähig, sondern auch nicht gewillt gewesen, sich zu erneuern. Den Protagonisten dieser Partei sei es nur ums eigene Überleben, um Rückgewinnung von Machtpositionen und um die Rettung der Parteifinanzen gegangen. Und: Mit einer gewieften Sündenbockstrategie habe der zum Interimsministerpräsidenten aufgestiegene ehemalige 1. Sekretär der Dresdner SED-Bezirksleitung Hans Modrow versucht, die Schuld für die Misere ganz bewusst auf die Stasi und Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski abzuwälzen, um von der Verantwortung der SED abzulenken. Diese Strategie, so Berghofers heutiges Resümee, sei aufgegangen: „Die eigentlichen Machtstrukturen sind alle aus dem Bewusstsein verschwunden.“

Berghofer selbst hatte 25 Jahre lang dieser Partei angehört und dort Karriere gemacht. Ende 1989 war er ein Hoffnungsträger derer gewesen, die am Zusammenbruch der DDR litten. Am 3. Dezember holte ihn Hans Modrow nach Berlin. Berghofer sollte helfen, die Partei zu retten.

Doch dem Erneuerungswilligen sind die Fäden schon entglitten, ehe er sie in den Händen hält: Berghofers Anweisung an einen Mitstreiter aus gemeinsamen FDJ-Tagen, alle Beweise für Wahlfälschungen – für die Berghofer später selbst vor Gericht steht – zu sichern, führt dazu, dass sie von dem vermeintlichen Freund zielstrebig vernichtet werden.

Die Parteigelder mit den diversen Sonderfinanzen, Auslandsguthaben, Transfers zu Bruderparteien im Westen bleiben undurchsichtig. Das Gerücht geht um, der Leiter der Abteilung „Sonderfinanzen“ des Zentralkomitees sei immer wieder mit einer Million DDR-Mark zur DDR-Staatsbank gegangen, habe sie dort 1:1 in Westmark umtauschen lassen und sei anschließend nach Westberlin gefahren, wo er zum Westkurs mindestens vier Mal so viel Westmark erhielt – Devisenvermehrung auf Kosten des Staatshaushalts, alles ohne Beleg. Nachzuweisen ist das alles nicht. „Die Aktenvernichtung war exemplarisch für alle Bereiche, wohl überlegt und wohl dosiert“ – nach den Prinzipien revolutionärer Wachsamkeit: „Keine Information an Fremde, kein Zugriff des Gegners auf sensible Wahrheiten“, rekapituliert Berghofer.

Wolfgang Berghofer ist heute überzeugt, dass Erich Honecker 1989 angesichts der Massenproteste der Bevölkerung „hundertprozentig einen Schießbefehl und entsprechende Direktiven dazu erlassen“ hat. Auch wenn alle einschlägigen Materialien auf den höheren Ebenen vernichtet wurden – Berghofer weist auf einen bislang unbeachteten Sachverhalt hin: Weil die SED-Führung immer wieder Dinge tun musste, „die nicht mit der Verfassung in Übereinstimmung und gesetzwidrig waren oder die man aus propagandistischen Gründen nicht schriftlich festhalten konnte“, wurden wichtige Instruktionen „nur zum Lesen und zum Vernichten weitergegeben“. Zu diesem Zweck habe es Instrukteure gegeben. „Für jede Bezirksleitung der SED gab es einen Instrukteur des Zentralkomitees“, also insgesamt 15, die alle Honecker direkt unterstanden. „Sie wissen im Grunde genommen alle Antworten auf die Fragen, die die Historiker nicht oder nur ungenau beantworten können.“ Es müsse nur einer von ihnen zum Reden bewegt werden.

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