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Sebastian Krumbiegel, gebürtiger Leipziger und Musiker.

© DPA

Aufruf2019: Leipzig demonstriert für Demokratie: "Meine Großmutter schämt sich bis heute, dass sie 1938 nichts gegen die Nazis tat"

Seine Großmutter erzählte ihm aus ihrer Jugend in der NS-Diktatur. Deshalb geht er heute demonstrieren. Ein Gastbeitrag des Prinzen-Sängers.

Der Autor ist Sänger bei der Leipziger Band "Die Prinzen" und Unterstützer des "Aufruf2019", den ein Leipziger Bürgerbündnis aus Sorge um Demokratie und gesellschaftliche Vielfalt gestartet hat. Zum Auftakt findet an diesem Montag, 14. Januar, eine Demonstration statt, die um 18 Uhr am Nikolaikirchhof beginnt.

Ich war ungefähr 15 Jahre alt, als mir meine Großmutter eine Geschichte aus ihrer Jugend erzählte, die mich tief beeindruckt hat. Diese Geschichte trug sich in Leipzig zu, an einen denkwürdigen Tag - es war der 9. November 1938, der Tag, der später als die so genannte „Reichskristallnacht“ unrühmlich in die deutsche Geschichte eingehen sollte.

Meine 19 Jahre junge Großmutter fuhr damals in einer voll besetzten Straßenbahn am Leipziger Zoo vorbei und bemerkte, dass draußen irgendwas ungewöhnliches zu passieren schien. Links neben dem Haupteingang verläuft noch heute das Flussbett der Parte. An der Brücke ist ein kleiner Gedenkstein angebracht, der daran erinnert, was damals an dieser Stelle geschah, und meine Großmutter war hautnah dabei. Sie erzählte mir, dass die Menschen vor dem Zoo aufgeregt durcheinander liefen und dass viele von ihnen in dieses breite, mächtige, massiv gemauerte Flussbett hinein getrieben und von dort aus in Richtung Hauptbahnhof geleitet wurden. Nahezu alle in der Straßenbahn bemerkten, dass da draußen etwas unschönes geschah, dass das, was da vor aller Augen passierte, eine Aktion war, bei der Menschen gegen ihren Willen zu Dingen gezwungen wurden, die sie nicht freiwillig tun wollten. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in dieser überfüllten Bahn merkte, dass dort Menschen Gewalt angetan wurde, und doch drehten sich die Fahrgäste weg und schauten angestrengt in die andere Richtung. Meine Großmutter sagte mit Tränen in den Augen: „Und weißt du was, Junge, ich habe mich auch abgewandt und wie alle anderen so getan, als ob ich nichts bemerken würde - und ich habe mich so dafür geschämt und ich schäme mich noch heute.“ Das saß - wenn du so was als 15 jähriger Junge von deiner geliebten Großmutter hörst, dann passiert da was mit dir.

Heute ist es leicht, zu sagen, man hätte sich anders verhalten

An diesem 9. November 1938 wurden Juden in Deutschland erstmalig massiv und vor allem koordiniert und generalstabsmäßig vorbereitet angegriffen. Es sollte wie spontaner Volkszorn aussehen, aber heute wissen wir, dass es das nicht war. Und wir wissen auch, dass das, was an diesem Tag und in der Zeit bis zum Tag der Befreiung passierte, nur passieren konnte, weil es dafür augenscheinlich eine breite Zustimmung, wenn nicht sogar eine Begeisterung in der Bevölkerung gab - mindestens aber eine passive Ich-halte-mich-da-raus-Stimmung.

Sicher ist es aus heutiger Sicht leicht, zu sagen: ich hätte mich damals anders verhalten. Ich hätte meinen Mund aufgemacht und mich gegen diese Ungerechtigkeiten aufgelehnt. Ja? Hätte ich das wirklich getan? Ich würde dafür nicht meine Hand ins Feuer legen. Ich denke eher, wenn ich in dieser Zeit gelebt hätte, wenn mein Vater vielleicht sogar ein straffer Nazi oder wenigstens ein nationaler, stolzer Deutscher gewesen wäre, dann hätte ich das wohl sicher auch alles ganz cool gefunden, wäre begeistert mit marschiert und hätte den rechten Arm zum Gruß hochgerissen. Wir sollten heute vorsichtig sein, unsere Eltern und Großeltern dafür zu verurteilen, dass sie damals mitgemacht haben, dass sie ein Teil des Systems waren, ein kleines Rädchen im Getriebe eines perversen Apparates. Sicher würden wir gern sagen, dass wir uns damals mindestens so wie Sophie und Hans Scholl gegen die Nazi-Diktatur aufgelehnt hätten - vielleicht hätten wir das ja auch, aber wahrscheinlicher ist, dass wir, so wie die meisten damals, mitgemacht hätten oder eben uns abgewandt und so getan hätten, als würden wir nicht bemerken, was passiert.

Es wäre fahrlässig so zu tun, als habe sich nichts verändert

Aber heute, mit dem Wissen um das, was damals geschehen ist, heute sind wir regelrecht dazu verpflichtet, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Wenn heute wieder Jüdische Restaurants angegriffen werden, wenn Antisemitismus oder Rassismus wieder salonfähig zu werden scheinen, wenn unser demokratisches Wertesystem infrage gestellt wird, wenn offen zum Kampf gegen „die Altparteien“ oder “das Establishment“ aufgerufen wird, dann sollten die Alarmglocken Sturm klingeln. Das hat nichts mit Alarmismus zu tun - es wäre blauäugig und fahrlässig, so zu tun, als habe sich nichts verändert, als wäre der Ton nicht rauher und der allgemeine Umgang nicht respektloser geworden. Ja - es mag sein, dass der Vergleich der heutigen politischen Situation mit der der Endphase der Weimarer Republik hinkt, aber wir sollten wachsam bleiben und nicht den Fehler machen, so zu tun, als würden wir nicht bemerken, dass bei uns gerade bemerkenswerte Dinge passieren, die durchaus Parallelen zur damaligen Entwicklung ziehen lassen. Wenn bei Pegida-Demonstrationen Galgen mit Namen von Merkel oder Gabriel gezeigt werden - und wenn die sächsische Justiz so eine Geschmacklosigkeit als nicht strafbar einstuft, wenn „Absaufen - Absaufen!“ skandiert wird, wenn ein Redner auf dem Dresdner Theaterplatz (dem ehemaligen Adolf-Hitler-Platz) über Seenotrettung spricht, wenn führende Politiker der so genannten „Alternative für Deutschland“ den Diskurs im Parlament und auf den Straßen vergiften, dann werde ich nicht so tun als würde ich das nicht bemerken. Dann bin ich froh, dass mir meine Großmutter damals eine Lektion erteilt hat, die ich niemals vergessen werde.

Demokratie ist eine extrem coole Lady

Denn die Welt, in der wir leben ist gar nicht so stabil, wie wir immer denken. Wir haben uns in den letzten Jahren schön eingerichtet in einer vermeintlich sicheren Welt. Die Architektin dieser Welt ist eine mittlerweile auch schon ganz schön in die Jahre gekommene aber immer noch extrem attraktive und vor allem kluge und stilvolle Dame, von der ich ein Lied singen will solange ich dazu in der Lage bin. Ich würde mich freuen, wenn viele Menschen mitsingen, denn sie braucht unsere Unterstützung. Sie kann nämlich nur überleben, wenn wir für sie brennen, wenn wir sie beschützen und pflegen und - ja - man muss es heute leider wieder so deutlich sagen - wenn wir sie gegen ihre Feinde, verteidigen, die in diesen bewegten Zeiten wieder aus ihren Löchern kriechen. Aber es lohnt sich, für sie zu kämpfen, denn sie ist wirklich eine extrem coole Lady.

Es ist die Demokratie

Die Demokratie ist weiblich

Ich weiß nicht, aber ich glaube

Dass die Liebe und die Hoffnung ihre Schwestern sind Weiblich - ich glaube Dass Barmherzigkeit und Humanität Genau das ist, worum es geht

Denn die Demokratie ist so zerbrechlich

Ich weiß nicht aber ich glaube

Dass die Klugheit auf der Matte steht

Genau so wie die Solidarität und die Schönheit Die Freiheit - die Verliebtheit In diese wunderbare Welt

Ich will ein Leben lang für diese Dinge gerade steh‘n Mit all den Leuten, die auf unserer Seite sind Ich will ein Leben lang auf dieser Barrikade steh‘n

Für die Demokratie - sie ist weiblich

Ich weiß, ich wiederhol‘ mich

Und frag mich: wie komm‘ ich drauf klar

Dass der Friede männlich ist

Genau wie der Krieg

Oder der Sieg

Das will ich wissen

Ich frag mein Gewissen - sächlich - tatsächlich Ist das Geschlecht doch nicht wichtig

Ich will ein Leben lang für diese Dinge gerade steh‘n Mit all den Leuten, die auf unserer Seite sind Ich will ein Leben lang auf dieser Barrikade steh‘n

Mit all den Männern, all den Frau‘n

Mit all den Wesen, die sich gegenseitig vertrau‘n Mit all den Freaks und den Normalos Ist egal - los lass mal machen

Ich will ein Leben lang für diese Dinge gerade steh‘n

Mit all den Leuten, die auf unserer Seite sind

Ich will ein Leben lang auf dieser Barrikade steh‘n

Ich will ein Leben lang versteh‘n

Dass es sich lohnt An dieser Front Steil zu geh‘n

Für die Demokratie

Sebastian Krumbiegel

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