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Politik: Bei der Welt im Wort

Von Moritz Döbler

Von der globalisierten Wirtschaft profitiert nur ein Drittel der Weltbevölkerung. Eine privilegierte Minderheit in einer Welt der Unsicherheit. Das ist gefährlich. Es ist moralisch verwerflich und ökonomischer Unsinn.

Diese Gedanken sind nicht neu. Aber dass sie Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac beim Gipfel der Reichen und Mächtigen in Davos leidenschaftlich vorbringt, lässt die Welt aufhorchen. Die Debatte ist im Establishment angekommen. Und es sind nicht nur wohlfeile Worte eines konservativen Präsidenten, dessen Amtszeit sich dem Ende zuneigt.

Denn Chirac wird konkret. 50 Milliarden Dollar pro Jahr – rund drei Prozent des globalen Wirtschaftswachstums – will er von der Welt für den Kampf gegen die „stillen Tsunamis“, wie er Hunger und Armut, Epidemien und Bürgerkrieg nennt. Als Erstes soll es gegen die Aids-Seuche gehen. Chirac will internationale Finanztransaktionen mit einem Zehntel Promille besteuern. Zehn Milliarden Dollar kämen so pro Jahr zusammen. Plus ein Dollar von dem Erlös eines jeden Flugtickets, was nochmal drei Milliarden Dollar brächte. Luftverkehrs- und Schifffahrtsabgaben sollen weitere Milliarden freisetzen. Und schließlich sollen Länder, die wie die Schweiz auf das Bankgeheimnis pochen, dafür zahlen müssen.

Die Reaktionen sind verhalten-freundlich, immerhin. Eine „Tobin-Steuer“ – benannt nach dem US-Ökonomen James Tobin, populär bei Linken wie Oskar Lafontaine, der mit ihr Spekulationsgewinne aus Devisentransaktionen abschöpfen wollte – führe in die Irre, mahnen manche, und andere wollen anderes, zum Beispiel eine Steuer auf Waffenexporte. So zerfasert die Debatte schnell. Vor allem aber dürfte die Initiative des alten Europäers kaum Applaus in Washington finden, das in Davos in diesem Jahr unterrepräsentiert ist. Und ohne die USA geht auf den Finanzmärkten, in der Luftfahrt nichts.

Dennoch könnten Chiracs Vorschläge einen Wendepunkt markieren. Sie entspringen nicht nur einem Sinn für Gerechtigkeit. Es geht für die industrialisierte Welt auch darum, ihr Gewicht zu erhalten. Denn die führenden Industrienationen und Russland, die das nächste G-8-Treffen im Juli im schottischen Gleneagles abhalten, vertreten längst nicht mehr die dynamischsten Volkswirtschaften der Erde.

China, Brasilien, Indien sind nicht dabei. Wenn die G8 nicht die global drängendsten Themen angehen, dann werden sie sich selbst überflüssig machen, argumentiert Chirac, und er hat Recht damit. Die G-8-Gemeinschaft ist im Umbruch, das zeigt auch Tony Blairs Vorstoß für den Klimaschutz – was wird das deutsche Thema sein, wenn Berlin übernächstes Jahr die Präsidentschaft übernimmt? Eine „Tobin-Steuer“, initiiert von den G8, könnte die Glaubwürdigkeit der reichen Nationen in der Dritten Welt steigern, könnte also Frieden stiften.

Chiracs Videobotschaft zeigt, dass der kalte Neoliberalismus der 90er Jahre immer weniger en vogue ist. In Davos weht ein Hauch von Porto Alegre, der Zeltstadt in Brasilien, in der sich 100000 Globalisierungsgegner in diesen Tagen treffen. Auch in Davos drehen sich die Debatten nicht mehr vorrangig um Shareholder Value, sondern um Gerechtigkeit. Das ist die richtige Entwicklung.

Man kann fragen, wohin die Milliarden fließen sollen – an den IWF, die Weltbank? – und ob das eine gute Idee ist. Man kann einwenden, dass Märkte sich nur begrenzt steuern lassen. Dass eine weltweit einheitliche Besteuerung wohl nicht funktioniert. Dass globale Initiativen anzuregen leichter ist als nationale Vorhaben umzusetzen. So gibt Frankreich nur 0,4 Prozent seines Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe aus – statt der 0,7 Prozent, die Chirac versprochen hatte.

Aber bei aller Kritik am Detail, bei allem Argwohn gegenüber den Motiven sollte man Chirac beim Wort nehmen. Auch das hat Tradition in Davos. 1987 forderte Hans-Dietrich Genscher dort, man müsse Gorbatschow bei seinen Glasnost-Bemühungen „beim Wort nehmen“. Einen Wimpernschlag der Geschichte später hatte die Welt eine neue Ordnung.

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