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Politik: Bewegt lauscht der PDS-Parteitag der Abschiedsrede seines Vorsitzenden Gregor Gysi

"Eine Lebensentscheidung", sagt Gregor Gysi. Und dass er es ernst meint, ist an den betroffenen Gesichtern der Delegierten in der Halle Münsterland zu sehen.

Von Matthias Meisner

"Eine Lebensentscheidung", sagt Gregor Gysi. Und dass er es ernst meint, ist an den betroffenen Gesichtern der Delegierten in der Halle Münsterland zu sehen. Die stellvertretende Bundesvorsitzende Gabi Zimmer aus Thüringen hat Tränen in den Augen. Aus dem gleichen Grunde ist die Schminke der früheren DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft verlaufen. Ungerührt sitzt vorn auf dem Parteitagspräsidium nur Sahra Wagenknecht, die Wortführerin der Kommunistischen Plattform. Gysi, erster Parteivorsitzender der im Dezember 1989 aus der SED hervorgegangenen PDS und seit 1990 Anführer ihrer Bundestagsabgeordneten, tritt ab, das scheint eine historische Stunde zu sein. Für Gysi selbst gilt sein Rückzug als Ende einer Ära, Mit "Einführung der PDS in die Gesellschaft der Bundesrepublik" sei eine "historische Aufgabe abgeschlossen".

Noch am Freitag hat der Parteitag in Münster den angekündigten Rückzug Lothar Biskys aus dem Vorsitzendenamt fast emotionslos aufgenommen. Jetzt schmerzt es, dass Gysi im Herbst den Fraktionsvorsitz abgeben will. Mal um Mal applaudiert der Parteitag dem Politiker, der die PDS in den vergangenen zehn Jahren unbeschadet aller Angriffe erst populär gemacht hat. Die Delegierten applaudieren für Sätze, die unter normalen Umständen viele schmerzen würden. Für die Aussage, dass der realexistierende Sozialismus nicht nur an subjektiven Fehlern der Politbürokratie, sondern an strukturellen Mängeln gescheitert sei. Dafür, dass die DDR der Bundesrepublik weder ökonomisch noch demokratisch überlegen gewesen sei. Seine Genossen sollten nicht "auf alte Antworten zurückzufallen", nicht die "Sicht auf die Wahrheit" versperren. "Leute", ruft der scheidende Fraktionschef aus, "die Menschen leben heute, jetzt und hier. Die können nicht einfach 100 Jahre warten."

Wie kein anderer Politiker hat Gregor Gysi die PDS geprägt und von der Revolution abgebracht. Er hat darum geworben, Brücken zu bauen zu Gewerkschaften, Kirchen, Bürgerinitiativen. "Denunziert Akzeptanz nicht", hämmert er den Delegierten ein: "Nutzt sie, macht etwas daraus". Es soll die letzte Rede Gysis auf einem Parteitag sein, das erwähnt er gleich zweimal. Ein Schlussappell, die PDS "in jeder Hinsicht" nach vorne zu bringen. "Wir müssen diese Gesellschaft verändern. Darum müssen wir zu ihr gehören". Das soll jetzt ohne das Engagement von Gysi gehen. Vergeblich stellt sich der Delegierte Christian Specht aus Berlin-Kreuzberg mit einem Plakat auf die Bühne: "Gregor Gysi soll bleiben".

Doch alle im Saal müssen wissen, dass Gysi nicht bleibt, und müssen ahnen, dass kaum etwas bleibt, wie es war. Gregor Gysi will Mitglied der PDS bleiben, einfaches Mitglied. Bis Ablauf der Wahlperiode 2002 wird er einfacher Abgeordneter im Bundestag bleiben und malt sich dafür eine Hinterbänklerrolle aus. Parteitermine, auch im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf, will er wo immer möglich absagen. Noch in der Nacht hat er mit seiner Frau, der früheren Hamburger Bundestagsabgeordneten Andrea Lederer, über seine Abschiedsrede beraten. Er will nicht als Politiker in Rente gehen. Dafür muss der 52-Jährige jetzt auf Einmischung verzichten, und diese Entscheidung hat er schon vor Wochen getroffen. Mit der Niederlage der Reformer in der Abstimmung zur Friedenspolitik soll der Schritt ausdrücklich nichts zu tun haben.

Gysi will nicht mehr in die Oper gehen und noch nach dem ersten Akt an die letzte Parteivorstandssitzung denken, so einfach ist das. Nach der Rede und kurzen Umarmungen mit den Spitzengenossen verlässt er den Saal mit den ergriffenen Delegierten und zündet er sich eine Zigarette an. Noch einmal ein Interviewmarathon an der Seite des PDS-Sprechers Hanno Harnisch, endlich das letzte? Zittrig ist der PDS-Spitzenpolitiker, unübersehbar. Ob die PDS reif ist für die Zeit nach Gysi? "Ich will es hoffen", redet er sich und den Journalisten ein. "Ich denke, dass ich den Schritt verantworten kann." Völlig überzeugt klingt das nicht.

Bisky weiß, dass der Rückzug des Spitzenpolitikers Gysi, erwogen schon einmal vor der Bundestagswahl 1998, nicht abzuwenden ist - auch wenn der scheidende Parteichef sich "völlig überzeugt" gibt, dass sein enger Freund und Bündnispartner irgendwann Entzugserscheinungen bekommen werde. Am eigenen Leib hat der noch bis Januar 2001 gewählte Vorsitzende gerade erst die Erleichterung gespürt, die mit der Aufgabe von Macht verbunden ist.

Bevor die Delegierten zur Internationale vom ersten Parteitag der PDS in Westdeutschland entlassen werden, sagt Bisky: "Zwei werden nicht mehr dabei sein, die euch schon seit zehn Jahren vor der Nase sitzen." Und rät den Delegierten, daraus nicht "irgendwelche Hiobsbotschaften" abzuleiten. Sein schwarzes Hemd wertet Bisky als "Ausdruck leichter Trauer", seinen silbernen Schlips als "Anzeichen einer Hoffnung": "Die PDS wird bei ihrem Grundkurs bleiben." Die Delegierten laufen mit mulmigen Gefühlen auseinander.

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