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Politik: Boliviens Revolution wird vertagt

Verfassunggebende Versammlung nach einem Jahr ohne Ergebnis – Verhandlungen sollen weitergehen

Von Michael Schmidt

Berlin - Die „demokratische und kulturelle Neugründung“ Boliviens wird verschoben. Zu seinem Amtsantritt im Januar 2006 hatte Evo Morales, der erste indigene Präsident des Landes, eine „Revolution“ ausgerufen. Kernstück soll eine Verfassung sein, die vor allem die Armen besserstellt. Die verfassunggebende Versammlung aber, die jetzt nach zwölfmonatigen zähen Verhandlungen ihre Arbeit hätte abschließen sollen, hat sich stattdessen darauf verständigt, sich bis zum 14. Dezember Zeit zu geben. Mit anderen Worten: Der politische Reformprozess im Armenhaus Südamerikas ist vorerst im Konflikt zwischen der indigenen Bevölkerungsmehrheit und den reichen Provinzen im Osten des Landes festgefahren.

Nichts Neues also unter der Sonne des Andenstaates? Das Verfahren sei durch zweierlei gekennzeichnet, sagt Jonas Wolff, Lateinamerikaexperte der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung: „Durch eine harte Rhetorik und scharfe Polarisierung in verbissenen Streitereien um kleinste Details – und durch immer wieder überraschende Konsensfindungsprozesse und Arbeitskompromisse.“

Zum Beispiel? Ein Jahr lang haben die 255 gewählten Vertreter bisher in der Versammlung gestritten und debattiert. Die ersten sechs Monate verbrachten sie allein damit, sich über die Abstimmungsmodalitäten zu verständigen. Im Januar 2007 einigte man sich schließlich darauf, dass alle Entscheidungen grundsätzlich mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden. Allerdings – Ausschüsse, in denen Teile der Verfassung zu verschiedenen Themen formuliert werden, haben die Möglichkeit, zu kontroversen Themen zwei Vorschläge einzubringen: einen der Mehrheit und einen der Minderheit. Auf der Basis dieser Vorschläge soll eine Kommission einen Verfassungsentwurf erarbeiten, der per Zweidrittelmehrheit vom Plenum verabschiedet wird – über dann immer noch umstrittene Themen, zu denen die Kommission keinen einheitlichen Vorschlag formulieren kann, soll per Volksabstimmung entschieden, abschließend der endgültige Text per Referendum beschlossen werden. So weit, so kompliziert. Aber, sagt Wolf, für ein an Kompromisse wenig gewohntes Land wie Bolivien „ein Riesenfortschritt“.

Wie weit der trägt, bleibt abzuwarten. Die Liste der umstrittenen Themen ist lang: Es geht um Bürgerrechte, die Neuverteilung von Land, die Autonomie der Provinzen, die Nutzung der Ressourcen des Landes. Kurzum: Es geht um nicht mehr und nicht weniger als eine Neuverteilung von wirtschaftlicher und politischer Macht. Und das in einem wirtschaftlich, politisch, ethnisch, kulturell und sozial gespaltenen Land, dessen Polarisierung ein bisher kaum gekanntes Ausmaß erreicht hat – West gegen Ost, Arm gegen Reich, indigen gegen weiß, sozialistisch gegen liberal und konservativ – und dessen Bevölkerung doch vor allem nur eines will: Einheit und soziale Gerechtigkeit.

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