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Politik: Chaos und Anarchie nach Abzug der Serben

PEJA . Es ist fast wie im Märchen: Die Räuber gelangen ins Schlaraffenland und können sich endlich den Bauch vollschlagen.

PEJA . Es ist fast wie im Märchen: Die Räuber gelangen ins Schlaraffenland und können sich endlich den Bauch vollschlagen. In der Rolle der Räuber sind müde Kämpfer der "Kosovo-Befreiungsarmee" (UCK), die sich im Kaufhaus von Peja (serbisch Pec) gemütlich eingerichtet haben. An der Kasse sitzt eine Räubersbraut in der UCK-Uniform, das schwarze Haar mit einem Kopftuch zusammengebunden, das Gewehr auf dem Ladentisch. Genußvoll schlürft sie an einem Joghurt, während ihre Mitkämpfer mit Bierdosen in der Hand die halbleeren Regale inspizieren. Die UCK-Kämpfer zelebrieren ihren Genuß vor Publikum. Hinter den Schaufenstern und an der gläsernen Eingangstür drängen sich ein paar Dutzend kaufwillige Kunden, meist ältere Albaner und auch ein paar Serben. Einige werden bedient, andere nicht. Viel gibt es ohnehin nicht zu verteilen. Doch wer sich nach Monaten des Terrors das erste Mal aus dem Haus wagt, gibt sich schon mit wenig zufrieden. Das neue "Personal" im Warenhaus nimmt scheinbar willkürlich Bestellungen entgegen und reicht Konserven oder Gläser mit Eingemachtem durch die halboffene Glastür. Doch plötzlich ist dann Schluß, und die Tür wird ganz zugesperrt. Man will dem Genuß ungestört frönen.

Wenn man Beziehungen hat, kriegt man etwas, sonst nicht, klagt eine Frau mit roten Strähnen im grauen Haar: "Das hat uns der Krieg gebracht", schimpft sie. Und sie schimpft über die Anarchie in der Stadt und darüber, daß es keine Kontrolle mehr gebe. Sie hat keine "Beziehungen" und muß mit leeren Händen wieder abziehen. Vor ein paar Tagen schon haben die serbischen Einheiten die Stadt verlassen, und die Friedenssoldaten aus Italien mit den schwarzen Federbüschen am Helm haben sich beim Hotel Metohija hinter Stacheldraht verbarrikadiert. Von dort aus scheint man das wilde Treiben in der Stadt vorerst tatenlos zu verfolgen.

Im Schutz des Stacheldrahts, gleich hinter dem Hotel, hat sich ein kleines Grüppchen von Serben versammelt. Einige sitzen mit finsteren Blicken und dem Gepäck griffbereit auf den Parkbänken. Sie schauen so aus, als wollten sie jeden Moment aufbrechen. Andere erzählen Schauergeschichten über die UCK, die albanische Rebellentruppe. Die Kämpfer der UCK sind nicht nur im Warenhaus, sie haben sich auch sonst überall in der Geisterstadt einquartiert: Geisterstadt, weil auch in Peja serbische Paramilitärs, oft Hand in Hand mit lokalen Serben und im Schatten der Nato-Luftangriffe, fast alle albanischen Bewohner vertrieben oder deportiert haben. Die lokalen Serben haben mitgeholfen oder weggeschaut.

Mehr als zwei Drittel der rund 80 000 Einwohner von Peja waren Albaner, doch nur wenige hundert haben sich den brutalen Vertreibungen entziehen können. Mit schwarzen Gesichtsmasken gingen die Paramilitärs von Tür zu Tür, verlangten Geld und trieben zum Aufbruch. In einer Orgie der Gewalt wurde der Bazar angezündet und mit Bulldozern niedergewalzt. "Es sollte wohl so ausschauen, als hätte die Nato hier gebombt", meint ein junger Albaner, der sich sichtlich schockiert das Schlachtfeld im Herzen der Stadt anschaut. Durch die Straßen von Peja streichen verschreckte Albaner und verwilderte Hunde. Und über allem hängt der beißende Gestank von brennenden Mülltonnen oder der süßliche Geruch von verwesendem Fleisch.

Doch unter den Serben von Peja gibt man sich trotzig und ist sich keiner Mitschuld bewußt. Die Albaner, heißt es auch hier, hätten die Häuser selber angezündet und seien anschließend "freiwillig" gegangen. Wie sollen Täter und Opfer von einst künftig zusammenleben können? Jetzt ist die Angst plötzlich bei den verbliebenen Serben. Man fährt schnell mit der gestreckten Hand über den Hals und spricht davon, daß die "Terroristen" von der UCK in der Nacht kommen, und einem mit dem Messer die Kehle durchschneiden. Viele der Serben sind schon gegangen, und einige werden sich dem Exodus noch anschließen.

Nicht nur das Warenhaus sucht neues Personal. Auch der Sitz der Polizei, im Keller haben Nato-Soldaten eine Folterkammer gefunden, ist verwaist. Der serbische Bürgermeister ist gegangen, der Direktor des Spitals auch. Im staatlichen Kaufhaus war nicht nur der Direktor ein Serbe, sondern auch die meisten Angestellten. Im Belgrader Apartheidsstaat im Kosovo waren alle Positionen mit Serben besetzt. Die Statthalter von einst haben sich im Gefolge von Polizei, Paramilitärs und Armee auch abgesetzt.

Der britische Oberkommandierende Mike Jackson feiert am Wochenende in Pristina den Abzug der serbischen Einheiten als Erfolg. Die 40 000 Mann im Dienste Belgrads hatten die Provinz schon einige Stunden vor Ablauf der Frist von Sonntag Mitternacht hinter sich gelassen. Doch zurück bleiben oft Chaos und Anarchie. Die serbischen Behörden haben sich abgesetzt, aber die vorgesehene UN-Administration ist noch nicht wirklich am Werk. Sergio Vieira de Mello, Interims-Verwalter des Kosovo, absolviert am Sonntag in Pristina seinen ersten Auftritt. Der Brasilianer spricht von der "großen Herausforderung" für die UN. Noch nie in ihrer Geschichte habe die UN so weitreichende exekutive Aufgaben übernommen.

Über einem Hochhaus im Zentrum von Pristina wird für die Fotografen die Fahne der Vereinten Nationen hochgezogen. Im Gebäude hatte zuvor die jugoslawische Armee ihren Sitz. Jetzt wird die UN von hier aus die Protektoratsbehörde für das Kosovo aufbauen müssen. Gouverneur de Mello wird in den nächsten Tagen Verwalter für die Distrikte und Gemeinden bestimmen. Auch eine Polizei und die Justiz müssen neu aufgebaut werden. Auch ein UN-Radio, von der Schweiz finanziert, ist geplant.

Die Zeit drängt, denn das öffentliche Leben steht still. In Pristina gibt es seit Tagen kein Wasser mehr, weil sich auch die serbischen Ingenieure abgesetzt haben. Das Trinkwasserreservoir nördlich von Pristina haben sie angeblich vermint zurückgelassen. Lebensmittel sind Mangelware, weil die Läden geplündert oder ausgebrannt sind. Und Treibstoff kostet auf dem Schwarzmarkt derzeit fünf Mark pro Liter. Auch die Hundertschaften der westlichen Journalisten müssen im einzigen Restaurant der Stadt Stunden auf eine Mahlzeit warten. In den Straßen bleibt der Müll liegen. Öffentliche Busse fahren nicht, und in den Wohnungen sind die Telefonleitungen tot. Die Zeit drängt, denn die Rückkehr der vertriebenen Albaner ist bereits angelaufen. An der mazedonischen Grenze warten die Flüchtlinge in der brütenden Hitze angeblich 24 Stunden auf Einlaß in die alte Heimat.

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