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Mechler

© privat

Historikerin Dorothea Melcher: "Chavez ist kein Diktator"

Historikerin Dorothea Melcher spricht mit dem Tagesspiegel über Venezuelas Präsidenten, den Sinn seiner Revolution und was in Europa gerne übersehen wird.

Frau Melcher, an diesem Montag ist Venezuelas Präsident Hugo Chavez seit zehn Jahren im Amt. Wird er eher als gesellschaftlicher Erneuerer oder als populistischer Diktator in die Geschichte eingehen?

Chavez ist kein Diktator. Sie dürfen nicht vergessen, dass er 1999 als demokratisch gewählter Präsident sein Amt antrat und seither zweimal in Wahlen und bei einem Referendum, das seiner Absetzung dienen sollte, bestätigt wurde. Er hat seinen Sozialismus des 21. Jahrhunderts nicht diktatorisch gegen die bisherige Gesellschaftsordnung durchgesetzt, sondern parallele Strukturen ins Leben gerufen, die den Einfluss breiter Bevölkerungsschichten garantieren sollen. Den Begriff Populismus verwendet die neoliberale Theorie überall dort, wo eine Politik zugunsten der sozial Schwachen angestoßen wird, um sie zu diskreditieren.

Wie sieht eine solche Politik in Venezuela aus?

Chavez’ „Revolution“ besteht aus sehr notwendigen Reformen. In Europa wird gern übersehen: Es ist sein bleibendes Verdienst, den Armen und Ausgeschlossenen eine Stimme gegeben, sie zu politischen Subjekten gemacht und ihnen Bildung und eine Gesundheitsversorgung zugänglich gemacht zu haben. Trotz aller Kritik, die auch ich an Chavez und einigen seiner Leute habe – er hat kaum Schaden angerichtet, der nicht zu korrigieren wäre. Und die politischen Führer der Opposition sind mehrheitlich dumm, aggressiv und ohne glaubwürdiges Programm, außer, dass Chavez weg müsse.

Was kritisieren Sie an Chavez und einigen seiner Leute?

Leider gibt es in der Umgebung von Chavez Leute, die nicht die Fähigkeiten für die Positionen haben, in denen sie sitzen. Sie haben jedoch großen Einfluss und sind unzugänglich für Kritik aus der Basis. Diese Opportunisten werden nicht genügend kontrolliert, auch nicht durch Chavez. Und es gibt Ansätze zur Entwicklungsplanung, die die Interessen der Indígenas, der Landbevölkerung und den Umweltschutz übergehen und von oben dekretiert werden.

1999 wurde in Venezuela eine neue Verfassung verabschiedet, die eine soziale, partizipative Demokratie verspricht. Was ist aus den Mitbestimmungs- und Teilnahmemöglichkeiten des Volkes geworden?

Das Volk hat sich in vielfältigen Basisorganisationen betätigt und dabei begonnen, seine eigenen Probleme zu artikulieren und eigene Interessen durchzusetzen. Es gibt eine breite Politisierung der Bevölkerung. Aber es gibt Widersprüche zwischen den Basisorganisationen und der zentralistischen Planungs- und Verwaltungsbürokratie, die noch nicht zugunsten einer der Seiten gelöst sind.

Wie hat er sich programmatisch in den vergangenen zehn Jahren verändert?

Sein Programm hat sich eigentlich nicht verändert; es wurde nur immer deutlicher und entschiedener, zum Teil sicher auch raubeinig umgesetzt.

Chavez strebt, um seine bolivarianische Revolution zu vollenden, eine Verfassungsänderung an, die ihm eine unbegrenzt häufige Wiederwahl erlaubte. Ist das nötig?

Zunächst einmal: Die Wiederwahl wäre zunächst nur für sechs Jahre – wenn er denn überhaupt gewählt würde, denn es handelt sich ja nur um das Recht, wieder Kandidat zu sein. Zum anderen: Eine Gesellschaft vom parasitären Kapitalismus eines Öllandes zu einer modernen, nachhaltig sich entwickelnden Wirtschaft zu führen, bei der das Volk der Träger und Nutznießer sein soll – das dauert viel länger als zehn Jahre.

Welche Rolle spielt Venezuela für Gesamt-Lateinamerika?

Das Ende des nordamerikanischen Freihandels-Projekts FTAA war ein großer Erfolg von Chavez. Die enge Verflechtung der lateinamerikanischen Länder mit der US-Wirtschaft seit den neunziger Jahren, die Außenverschuldung und die harte Haltung der USA gegenüber unwilligen Regierungen machte die Organisierung alternativer Bündnisse schwierig. Dennoch konnten Alba, Petrosur und die regionale Staatenorganisation Unasur erfolgreich zustande kommen. Dabei ist Venezuela die immer wieder treibende Kraft.

Das Gespräch führte Michael Schmidt.

Dorothea Melcher, 66, ist emeritierte deutsch-venezolanische Professorin für Wirtschaftsgeschichte in Merida/Venezuela. Zuletzt erschien von ihr „Venezuelas Erdöl-Sozialismus“.

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