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Politik: Das bewegte Land

Von Tissy Bruns

Das war es also, das Superwahljahr. Düstere Diagnosen beklagen die wachsende Wahlverweigerung, die Krise beider Volksparteien, die Erfolge der Rechtsradikalen, den neuerlichen Aufschwung der PDS. Nach der nordrheinwestfälischen Kommunalwahl kann sich das Publikum vor Siegern kaum retten. Da muss wirklich was passiert sein, wenn das Minus der je anderen Partei die Verluste der eigenen zur Trendwende verklärt.

Aber was? Das Superwahljahr zeigt keinen Trend für die Bundestagswahl an. Aber es hat dramatische Momentaufnahmen eines Landes geliefert, das, zunächst verstört und empört, mit jeder Wahl mehr zur Kenntnis nimmt, wie sehr es sich verändern muss. Selten ist in vier Monaten so viel passiert, wie sich in den Wahlergebnissen von Juni bis September widerspiegelt. Im Juni funktioniert die Europawahl noch nach altem Muster. Die SPD kassiert eine harte Quittung für Schröders Agenda-Kurs – und wenn die eine Volkspartei verliert, zieht die andere eben alle Hoffnungen auf sich. Die erweisen sich als Illusion, als im Juli und August „Hartz IV“ richtig ins öffentliche Bewusstsein dringt. Die größte Sozialreform in der Geschichte der Republik wird als Abkehr vom bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat verstanden und mit Protesten an den Urnen und auf der Straße beantwortet.

Die Septemberwahlen differenzieren das Bild. Nun werden – zu Recht – beide Volksparteien für diese Reform in die Verantwortung genommen. NDP, DVU und, auf andere Art, die PDS können die Chiffre „Hartz IV“ für sich nutzen. Doch die Welle der reinen Empörung bricht. Die Montagsdemonstrationen werden schwächer, führende Gewerkschafter zügeln ihre Tonlage gegen die Politik. In Sachsen und Brandenburg zeigt sich ein feiner, wichtiger Unterschied. Der wankelmütige Hartz-Befürworter und Christdemokrat Georg Milbradt in Sachsen wird von den Wählern schwer bestraft; Sozialdemokrat Matthias Platzeck in Brandenburg kann durch kämpferisches Werben ein Debakel abwenden: Von den Reformen überzeugt nur, wer selbst davon überzeugt ist. Die populistisch ausnutzbare Stimmung gegen die Reformen hat ihren Höhepunkt erreicht – und gleichzeitig überschritten.

Eine parteipolitische Trendwende ist das nicht. Vielleicht aber eine in Richtung Vernunft, wenn die Volksparteien die Ohrfeigen der Wähler als Chance nehmen, daraus zu lernen. Das Volk kann rechnen und wendet sich mit Grausen, wenn ihm ein Plus für ein Minus vorgegaukelt wird, nicht nur bei der Interpretation von Wahlergebnissen. Wenn beide Volksparteien politisch haftbar gemacht werden, dann kann keine mehr mit Strategien überzeugen, die hinter die eigenen Reformeinsichten zurückfallen.

Das ist nach Lage der Dinge vor allem eine Mahnung an die Union. Man kann immerhin menschlich nachvollziehen, dass die SPD eine Wende sehen will, wo es in Wahrheit nur einen zweiten Verlierer gibt. Nach einer Serie von heftigen Schlägen werden die etwas sanfteren schon als Streicheleinheiten wahrgenommen. Doch die SPD weiß, dass sie keine andere Chance mehr hat als die Standfestigkeit, die Schröder nach der verlorenen Europawahl als seine Devise ausgegeben hat: Ich kann keine andere Politik. Das war das Muster für Platzeck, es kann nur das Muster für Ministerpräsident Steinbrück in Nordrhein-Westfalen sein.

Bei der Union ist noch nicht angekommen, was die Wähler der SPD unmissverständlich mitgeteilt haben. Die Abkehr vom alten Wohlfahrtsstaat zwingt die Volksparteien zur Selbstreform. Neoliberal scheinen beide, Merkels CDU und die SPD. Stoibers Warnschilder gegen diese Kälte kann man so gut verstehen wie die der SPD-Linken. Es hilft aber nichts: Ihre Bindekraft können Union wie SPD nur wiederherstellen, wenn ihre Anhänger sich überzeugen lassen, dass die Abkehr vom ständig wachsenden Wohlfahrtsstaat nicht das Ende des Sozialstaats ist. Und davon, dass der nur noch Zukunft hat, wenn die Balance zwischen Staat und Eigenverantwortung neu bestimmt wird – zugunsten der Eigenvorsorge.

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