zum Hauptinhalt

Politik: Das Geheimnis des Swings

Das sechste Jahr Rezession – und was machen die Griechen? Drehen sich lachend zu „In the Mood“. Einfach mal abschalten, sagen sie, die Sorgen vergessen – für ein paar flotte Takte. Der Krisentanz von 1929 ist zurück auf dem Parkett.

Bei jedem Türöffnen schallen quirlige Swingklänge aus dem Café Floral auf die Straße, und drinnen trieft die Luft schier vor Hitze, doch das macht den Tanzenden nichts aus. Das Parkett gleich hinter dem Eingang ist voll, zu Glenn Millers „In the Mood“ fliegen schweißnasse Kleider, Hosen, Hemden, Shirts durcheinander. Die Frauen drehen sich, dass die Röcke und Pferdeschwänze fliegen, die Männer lassen Hosenträger schnalzen oder lüften ab und zu ihre Hüte, Paare wirbeln vorbei, verknoten sich in neu gelernten Figuren, lösen sich voneinander, um sich gleich im nächsten Takt lässig über die Tanzfläche zu schieben. Die Stimmung ist ausgelassen. Wie jeden Montagabend, wenn Swingparty ist im Café Floral – Eintritt frei – mitten in Athen, Griechenland, Krisenland, sechs Jahre Rezession in Folge, Arbeitslosenquote 27,6 Prozent.

Sofia Zaroudakis, 38, ist fast jeden Montag hier. Noch sitzt sie an der Bar hinter der Tanzfläche, doch wippt ihr Bein schon im Takt der Musik, die der DJ hinter dem Tresen auflegt. Auf dem Holztresen stehen zur Erfrischung Karaffen mit Leitungswasser und Gläser bereit und Schalen mit Erdnüssen. Nur wer will, kauft sich ein Getränk. Sofia Zaroudakis belässt es bei ein, zwei Limonaden pro Abend, denn sie muss sparen, wie so viele hier. Und wie ebenfalls so viele hier, will sie dann und wann mal nicht daran denken müssen. An die Krise, die prekäre Lage, die schlimmen Aussichten. Alles scheint irgendwie leichter mit der Musik.

Who’s the lovin’ dolly with the beautiful eyes . . .

Sie lacht und wippt noch etwas mehr mit dem Fuß. Das Tanzen sei für sie fast schon eine Notwendigkeit, um Druck abzulassen und den Kopf freizukriegen. Sofia Zaroudakis ist verbeamtete Anwältin und Mutter von zwei kleinen Kindern, und sie lebt im ständigen Bewusstsein, dass der Beamtenstatus kaum noch etwas wert ist, „es besteht ständig die Gefahr, dass ich kurzfristig gekündigt werde“, sagt sie, und diese Gedanken kann sie hier beim Swingtanzen für ein paar Stunden „einfach abschalten“. Den Wunsch haben nach Jahren der dauernden Auseinandersetzung mit den Problemen und der krisenhaften Lage viele. Swing boomt in Griechenland.

. . . I’ll just tell her, ,Baby, won’t you swing it with me’. . .

Der Beamtenstatus, der noch vor ein paar Jahren ein geregeltes Leben garantierte, sorgt in Griechenland inzwischen für ständige Unsicherheit. Noch in diesem Jahr sollen 4000 Staatsbedienstete gehen, bis Ende 2014 müssen 15 000 Beamte entlassen werden. Das gehört zu den Bedingungen, um eine weitere Finanzspritze der internationalen Geldgeber zu bekommen. Sofia Zaroudakis hat ihren Job noch, doch die Sparmaßnahmen der Regierung bekommt sie schon zu spüren. Ihr Jahresgehalt habe sich von ehemals 30 000 Euro auf rund 16 000 Euro nahezu halbiert. Die Aussichten bis zum Jahr 2016 verheißen, dass das Gehalt auf 12 000 Euro gekürzt wird. „Das ist für meine Familie und mich dramatisch. Wir müssen beim Einkaufen alles abzählen und können nichts mehr planen.“ Außerdem müssen sie jedes halbe Jahr erneut die Miete verhandeln, da sie die aktuelle nicht mehr zahlen können. Unterstützung von den Eltern gäbe es schon. Doch auch deren Rente wurde stark gekürzt.

„Es hat uns alle erwischt“, sagt Sofia, dann rutscht sie von ihrem Barhocker und hüpft mit einem ihrer Bekannten auf die Tanzfläche.

. . . She said ,Don’t keep me waitin’ when I’m in the mood’. . .

Das Stück dauert vier Minuten. Vier Minuten Krisenstopp im Kopf.

Schon einmal hat der Swingtanz eine Krise versüßt. Als mit dem „schwarzen Donnerstag“, dem 24. Oktober 1929, ein jahrelanger Börsenaufschwung jäh endete und der Crash die Weltwirtschaftskrise auslöste. Geschäfte gingen pleite, Menschen verloren massenhaft ihre Jobs. Aber das Tanzen in Ballrooms, kleinen Tanzlokalen und auf offener Straße brauchte nicht viel Geld, und Musiker wie Count Basie, Duke Ellington, Benny Goodman, Ella Fitzgerald und später Glenn Miller wurden zu Rettern, deren Hits den desaströsen Alltag für ein paar Stunden vergessen ließen. So ist das heute in Griechenland, es ist sogar die Musik von damals, die in Bars erklingt, in kleinen Tanzschulen oder auf der Straße. Sie lasse die Sorgen vergessen, sagen die Tänzerinnen und Tänzer heute wie damals – und swingen sich fort in die sorgenfreiere Vergangenheit.

Eskapismus nennen Psychologen diese Sehnsucht nach alten Zeiten. Eskapisten, sagen die Experten, meiden die alltägliche Realität mit all ihren Anforderungen und geben sich einer von ihnen gewählten Scheinwirklichkeit hin. Ein Phänomen, das sich in Krisenzeiten verstärkt: Denn Bewährtes scheint zu wanken, vergangene Epochen werden idealisiert.

. . . First I hold her lightly and we started to dance . . .

Sollte Sofia Zaroudakis ihren Job verlieren, bekäme sie ein Jahr lang Arbeitslosengeld, das auf Basis der letzten vier Jahresgehälter berechnet wird. Doch zahlt der Staat, ganz gleich wie viel sie in diesen vier Jahren verdient hat, höchstens einen monatlichen Betrag von 450 Euro. Aufgenommene Darlehen oder andere laufende Kosten können damit oft nicht mehr gezahlt werden. Nach einem Jahr endet die Arbeitslosenhilfe, und weitere Unterstützung bietet der griechische Staat nicht an. Die Menschen werden in die Armut entlassen.

Vor dem Eingang vom Café Floral steht mit knielangem Kleid und flachen Schuhen die 24-jährige Alexandra und wartet auf eine Freundin.

. . . Then I hold her tightly what a dreamy romance . . .

Alexandra hat studiert und bereitet sich gerade auf ihre Abschlussprüfung vor. Doch die Chancen, dass sie danach in Griechenland einen Arbeitsplatz findet, stehen gleich null. Alexandras Familie kommt aus Zypern, und so hatte Alexandra bis vor kurzem noch eine Alternative. „Aber jetzt ist’s auch damit vorbei“, sagt sie. Jetzt bleibe ihr wahrscheinlich nichts anderes übrig, als ins Ausland zu gehen. Als Braindrain-Phänomen wird dieses Abwandern von gut ausgebildeten Fachkräften bezeichnet. Keine Arbeitsplätze, kaum Nebenjobs, Steuern ab dem ersten verdienten Euro, hohe Lebenskosten. Dass die Arbeitslosigkeit wie eine Epidemie um sich greift, gehört in Griechenland heutzutage zum Alltag. „Es ist mittlerweile völlig normal“, erzählt Alexandra weiter, „dass du ständig Leute kennenlernst, die entweder arbeitslos sind, gerade ihren Job verlieren oder einen total unterbezahlten Job haben und trotzdem jede Menge Überstunden machen müssen.“ Ständige Unsicherheit, keine Zukunftsperspektive – das geht auch an die Nerven. Mehr als zwei Drittel aller jungen Akademiker in Griechenland im Alter zwischen 22 und 35 Jahren überlegen, ihre Heimat zu verlassen. Allein nach Deutschland sind im vergangenen Jahr 34 000 Griechen gekommen, meldet das statistische Bundesamt. Alexandra möchte ihre Heimat eigentlich nicht verlassen, sie würde sich als Wirtschaftsflüchtling fühlen. „Und so, wie mich andere dann sehen, oder auch ich mich selbst – wohlfühlen würde ich mich damit nicht“, sagt sie.

. . . And I said ,Hey, baby, it’s a quarter to three, there’s a mess of moonlight, won’t-cha share it with me’ . . .

Ihre Freundin kommt, Alexandra strahlt, jetzt geht es los, sie öffnen die Tür, die Musik schwillt heraus, und sie stürzen sich hinein. Einmal wenigstens kurz nicht darüber grübeln müssen, was aus ihr werden soll. „Einfach ab und zu nur das Leben spüren, das ist so schön!“, hatte sie noch gesagt.

Einen Abend später findet eine Swingparty unter freiem Himmel statt. Die berühmte Athener Einkaufsstraße Ermou führt vom Syntagmaplatz, an dem das Parlamentgebäude steht, bis nach Ghazi, den belebten Athener Stadtteil mit vielen Bars, Cafés und Theatern. Schon von Weitem ist die Swingmusik zu hören. Die Tanzfläche auf dem letzten Abschnitt der Ermou ist ein Stück Marmorboden am Rande der Fußgängerstraße. Rasen und ein paar hochgewachsene Bäume säumen die Tanzfläche. Ein junger Mann wählt die neuen Stücke aus der Playlist seines Laptops. Auf den Rasenflächen haben viele junge Leute ihre Decken ausgebreitet, auf denen mitgebrachte Getränke und Snacks stehen. Unter den Tanzenden ist Antonis, 37. Seine Partnerin zeigt ihm die neuen Swingschritte. Früher hatte er Tanzkurse, aber das ist vorbei. Vor ein paar Monaten hat er seine Arbeit verloren und musste alles, was eine finanzielle Zusatzbelastung ist, aus seinem Alltag streichen. Nach dem Musikstück setzt er sich auf eine der Decken am Rand und schaut den anderen beim Tanzen zu. Antonis hat Architektur studiert und dann fünf Jahre als Architekt in einem Unternehmen gearbeitet. Die Chefs stammten aus Zypern, und so kamen viele Aufträge von dort. Doch dann kam der große Knall auch nach Zypern. Danach bewarb Antonis sich auf alles, einmal als Lieferant für einen Zigarettenladen. „Dort wurde mir gesagt, es ist egal ob du Medizin studiert hast, Rechtswissenschaftler bist oder eben Architekt. Hier haben sich 600 Leute beworben.“ Vor ein paar Wochen hat er einen Job als Pizzakurier bekommen. 500 Euro bekommt er pro Monat für mehr als 40 Stunden Arbeit pro Woche. Überstunden werden nicht bezahlt. Beschweren kann man sich nicht, denn die Chefs wissen, wie begehrt der Job ist. Antonis lächelt freundlich. Er sagt: „Niemand kann von 500 Euro im Monat leben, egal wie sparsam er ist.“

Was er macht? Er kaufe nie mehr als das Nötigste, vergleiche immer alle Preise, gehe viel spazieren oder tanzt wie hier auf der Ermou. Früher sprangen Freunde und Verwandte ein, wenn ein Familienmitglied seine Arbeit verlor oder krank wurde. Doch jetzt ist fast jeder von den Sparmaßnahmen im Lande betroffen. Das einst funktionierende System trägt nicht mehr. Die Vetternwirtschaft hat die Krise allerdings nicht auslöschen können. Viele der einflussreichen oder wohlhabenden Griechen sind als Steuerhinterzieher für die Misere des Landes mit verantwortlich. Dennoch werden sie nur selten zur Zielscheibe auf den Demonstrationen.

. . . It didn’t take me long to say ,I’m in the mood now’ . . .

„Ist doch klar!“, ruft Antonis aufgeregt. „Wenn du von mir abhängig bist oder dir erhoffst, dass ich dich unterstütze und dir und deiner Familie, deinen Bekannten und Freunden zu essen gebe, wirst du dann schlecht über mich reden?“ Oder wenn einer daherkäme und einen Job anbieten würde, ganz gleich ob das zum Beispiel die faschistische Chrysi Avgi ist. Was dann? „Man will doch seine Familie ernähren!“, ruft Antonis.

Auch in den 20er Jahren dauerte es nicht lange, bis die Faschisten Aufschwung bekamen, und unter der Herrschaft der Nazis Swingtanzen verboten wurde. Das krisengeschüttelte Griechenland mit seiner verunsicherten Bevölkerung ist Nährboden für rechte Propaganda. Die neofaschistische Partei Chrysi Avgi ist mittlerweile drittstärkste Partei im Lande. Antonis schüttelt den Kopf. Er verzichtet auf deren Hilfe. Er hält sich lieber an den Tanz aus jener Zeit.

. . . In the mood for all his kissin’

In the mood her crazy lovin’ . . .

Zu Antonis auf die Decke hat sich Myrtho gesetzt, Zahnärztin, Single, 36. Die beiden flachsen herum. Doch aus Spaß wird Galgenhumor. Antonis lacht laut, wenn er behauptet, er schaue sich Discovery Channel an und reise dadurch um die Welt. „Weiter als das geht es halt nicht mehr.“ Myrtho nickt: Vor allem Träume gäbe es nicht mehr. Alle geplatzt. Kinder? Ach, daran sei sowieso nicht zu denken. „Wie sollen die denn aufwachsen?“ Das würden sich die meisten in ihrem Alter fragen. Antonis, der sich immer eine Familie gewünscht hat, stimmt zu: „Du gehst morgens zur Arbeit und weißt nicht, ob sie dich entlassen.“ Diese Unsicherheit lässt die Geburtenrate Griechenlands sinken, die Zahl der Abtreibungen dagegen steigt explosionsartig an.

Nicht einmal Beziehungen würden wie früher geknüpft, sagt Myrtho. In ihrem Freundeskreis seien viele Singles. Die Menschen würden auf der Stelle treten, nicht mehr nach vorne blicken, nicht vorangehen. Die Krise habe alle Lebensbereiche ergriffen. Myrtho und Antonis wirken erschöpft. Dann, wie um sich aus dem Gesagten herauszureißen, springt Myrtho auf. „Tanzen wir?“ Sie streckt Antonis ihre Hand hin, der sich hochziehen lässt. Und schon hüpfen und rutschen die beiden im lässigen Swingrhythmus über die Tanzfläche, den Alltag ausblendend.

In the mood . . .

Wenigstens für ein paar Stunden.

Theodora Mavropoulos[Athen]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false