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Politik: Das Große denken

Von Peter von Becker

Heute geht im Berliner MartinGropius-Bau die Ausstellung zum Frankfurter Auschwitz-Prozess vor 40 Jahren zu Ende; und soeben wurde die letzte der über 2700 Stelen des Holocaust-Mahnmals gesetzt. Eine Koinzidenz, kein Schlussstein. Ohnehin wird das Mahnmal als Meile der Kontemplation erst im Mai nächsten Jahres eröffnet. Dies verheißt nochmals ein Ereignis mit weltweiter Aufmerksamkeit. Aber das in der Nahaufnahme so monumentale Stelenfeld wird im kommenden Jahr doch nur ein symbolischer Ausschnitt sein eines größeren Gedenkens, ja einer wohl unvergleichlichen Zäsur.

2005 steht im Zeichen der Jubiläen: Friedrich Schiller, Albert Einstein und den Märchenerzähler Hans Christian Andersen wird man feiern. Doch dies alles überstrahlt (und überschattet wegen der Opfer) das 60 Jahre zurückliegende Ende des Holocausts und des Zweiten Weltkrieges. Für Deutschland und Israel kommt noch hinzu, dass man im Frühjahr mit einer Vielzahl von Veranstaltungen an die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen vor (erst) 40 Jahren erinnern wird.

So dürfte gerade das kommende Jahr zum Prüfstein und Maßstab auch der Gedächtniskultur in Deutschland werden. Aktuelle Aufwallungen des Jahres 2004, vom filmischen „Untergang“ bis zur musealen Flick-Collection, relativieren sich dann im historisch weiteren, womöglich tiefer gedachten Rahmen. Zugleich aber mischen sich ins Gemenge der offiziösen Termine auch merkwürdige, wenn nicht makabre Anlässe: beispielsweise im März die Eröffnung eines luxuriösen Wellness-Hotels auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden – just am Ort, wo Hitler in der Höhenluft die Welteroberung plante und seinen zweiten Regierungssitz hatte.

Dass diese vor einiger Zeit noch undenkbare Mixtur aus Erinnerung und Erholung, aus Grauen und Gesundheit jetzt trotz kleinerer Debatten ohne völlige Skandalisierung möglich ist, hat allerdings mit der fortschreitenden Historisierung des Nazi-Schreckens zu tun. Bald wird es keine Zeugen, keine überlebenden Täter oder Opfer des Holocausts mehr geben. Das ist die Zäsur – und letztlich der einzige Grund für die teils beargwöhnte, überwiegend jedoch ersehnte „Normalität“ unserer Verhältnisse. Kein Einzelner hat mehr Schuld, indes soll die Gemeinschaft sich weiterhin ihrer historischen Verantwortung stellen. Gemeint sind damit immer weniger materielle Entschädigungsfragen als eben jene schwer beschreibliche und jenseits persönlicher, familiärer Betroffenheit noch viel schwieriger lebbare Gedächtniskultur.

Schon jetzt droht das steinern abstrakte Mahnmal von Berlin auch zum Abbild einer irgendwann versteinerten oder verflüchtigten Erinnerung zu werden. Es ist indes keine „nationale“ Gedenkstätte, es ist den „ermordeten Juden Europas“ gewidmet. Und ohne die deutsche Hauptverantwortung für Krieg und Holocaust zu verdrängen, könnte 2005 ins Bewusstsein rufen, dass der Zivilisationsbruch ein europäischer Schrecken war. Seit der Wende und der Erweiterung der EU beginnen auch Ungarn, Polen, die baltischen Staaten, Kroatien und soeben Rumänien, wenngleich noch zögerlich, ihre Rollen im Krieg, der ein Krieg gegen Europas Menschen, Rechte und Werte war, selbstkritisch zu bedenken. Deutschlands Umgang mit dem nie zu Bewältigenden, gilt dabei als Vorbild. Für manche klingt das paradox. Aber es beschreibt nur die Verpflichtung – und die Herausforderung.

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