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Boris Pistorius (SPD).

© picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka

Exklusiv

„Scholz nicht die erste Wahl“: Zweiter SPD-Bundestagsabgeordneter für Kanzlerkandidatur von Pistorius

In der SPD mehren sich die Forderungen nach einer Kanzlerkandidatur von Verteidigungsminister Pistorius. Der Unmut über Kanzler Scholz ist immens.

Stand:

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sieht sich mit wachsendem Widerstand gegen eine weitere Kanzlerkandidatur konfrontiert. Während sich führende SPD-Politiker wie die Parteivorsitzenden Klingbeil und Esken auf Scholz festgelegt haben, werden Rufe nach Verteidigungsminister Boris Pistorius nicht nur an der Parteibasis von Tag zu Tag lauter.

Mit dem Verteidigungsexperten Johannes Arlt spricht sich ein zweiter SPD-Bundestagsabgeordneter für eine Kanzlerkandidatur von Pistorius aus. „Wir sollten jetzt schnellstmöglich klären, wer für die SPD als Kanzlerkandidat in die Bundestagswahl gehen wird“, sagte Arlt dem „Tagesspiegel“. „Boris Pistorius wäre ein solch hervorragender SPD-Kanzlerkandidat. Meiner Meinung nach ist er bestens geeignet, unsere Partei in den Wahlkampf zu führen.“

Pistorius stehe für Geradlinigkeit und einen klaren Wertekompass, sagte Arlt. Er übe in harten Zeiten „das schwierigste Ministeramt“ aus. „Er kann den Menschen, politische Entscheidungen mit einfachen, klaren Worten erklären. Er führt, ohne ständig von Führung zu reden. Viele Menschen in Deutschland vertrauen ihm.“

Johannes Arlt ist Bundestagsabgeordneter der SPD.

© Privat

Scholz habe als Bundeskanzler „herausragende Verdienste“ und er habe diverse Krisen sehr gut gemanagt, sagte Arlt. Aber er habe auch, nicht immer zu Recht, sehr viel Unmut auf sich gezogen. „Dieser Unmut sitzt in breiten Teilen der Bevölkerung tief. Zu tief, um daran in einem kurzen Wahlkampf etwas ändern zu können“, sagte Arlt. „Die Bedenken der Mehrheit der SPD-Mitglieder in meinem Wahlkreis und vieler Bürger, dass Olaf Scholz eben nicht die erste Wahl für die nächste Bundestagswahl sei, teile ich.“

Arlt: „Ich führe diese Debatte in meinem Wahlkreis seit Monaten“

SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich habe Anfang der Woche das Grummeln vieler Parteimitglieder über die SPD-Kanzlerkandidatur erwähnt, sagte Arlt: „Ich führe diese Personaldebatte in meinem Wahlkreis seit mehreren Monaten und verteidigte den Kanzler dabei bisher immer. Viele Bürgerinnen und Parteimitglieder haben mir geschrieben, ihre Präferenz und ihre Sorgen zum Ausdruck gebracht.“

Mit dem 40-jährigen SPD-Politiker aus Mecklenburg-Vorpommern, der seit 2021 den Wahlkreis Mecklenburgische Seenplatte II – Landkreis Rostock als direkt gewählter Abgeordneter im Bundestag vertritt, wird die Liste derjenigen, die offen für Pistorius plädieren, immer länger.

Entsprechend äußerte sich etwa der Bochumer SPD-Vorsitzende Serdar Yüksel im „Stern“. Er sagte: „Boris Pistorius wäre der beste Kanzlerkandidat.“ Die Stimmung in den Ortsvereinen und bei den Mitgliedern rufe nach einem Wechsel.

Zuvor hatte mit Joe Weingarten der erste Bundestagsabgeordnete öffentlich eine Kandidatur von Verteidigungsminister Boris Pistorius gefordert. „Es ist meine klare Meinung, dass wir mit Boris Pistorius in den Wahlkampf ziehen sollten“, sagte Weingarten der „Süddeutschen Zeitung“. Er habe die Tatkraft, die Nähe zu den Menschen und die Fähigkeit, auch in klarem Deutsch zu sagen, was zu tun sei.

Der „Spiegel“ hatte von einem Treffen des Seeheimer Kreises in der SPD-Bundestagsfraktion berichtet. Dort hätten sich mehrere Abgeordnete für eine Kanzlerkandidatur von Pistorius ausgesprochen – unter anderem auch der rheinland-pfälzische Abgeordnete Weingarten. Dieser habe Teilnehmern zufolge gesagt, Olaf Scholz sei bei den Menschen im Land „unten durch“.

SPD-Abgeordneter setzt mit Pistorius auf über 20 Prozent

Weingarten hatte bereits Anfang November Skepsis gegenüber einer Scholz-Kandidatur gezeigt. Mit Pistorius lasse sich ein besseres Wahlergebnis erzielen als mit Scholz, sagte Weingarten nach Tagesspiegel-Informationen in internen Gesprächen. Mit Pistorius, so argumentierte Weingarten, lasse sich ein Wahlergebnis von deutlich über 20 Prozent erzielen, was mit Scholz kaum mehr möglich sei.

Schon im Frühling und Sommer hatten einzelne SPD-Kommunalpolitiker, so Nordsachsens SPD-Fraktionschef Heiko Wittig und Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter, ihrer Partei im Tagesspiegel eine Kandidatur von Pistorius empfohlen. Diese und die jüngsten Wortmeldungen sind nach Einschätzung in Parteikreisen keine Einzelmeinungen emhr.

Müntefering warnte vor Festlegung auf Scholz

Die Plädoyers für Pistorius spiegeln demnach vielmehr die in der SPD weit verbreitete Sorge wider, mit Scholz an der Spitze einer schweren Niederlage bei der Neuwahl am 23. Februar entgegenzusteuern. Zu den Scholz-Skeptikern in der Sozialdemokratie zählt der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering, der seine Partei bereits vor dem Scheitern der Ampel vor einer verfrühten Festlegung auf eine weitere Kandidatur des Kanzlers gewarnt hatte.

Jetzt legt Müntefering noch einmal nach. Seiner Ansicht nach kann Scholz kein Vorrecht auf eine weitere Bewerbung geltend machen. „Kanzlerkandidatur ist kein Spiel, das zwei oder mehr Kandidaten abends beim Bier oder beim Frühstück vereinbaren oder das ein Vorrecht auf Wiederwahl umfasst“, sagte Müntefering dem Tagesspiegel. Die Wahl eines Kanzlerkandidaten oder einer Kandidatin müsse auf einem SPD-Parteitag erfolgen. Gegenkandidaturen seien grundsätzlich möglich und kein Zeichen von Ratlosigkeit, sondern praktizierte Demokratie.

Die Sorge in der SPD vor einer heftigen Wahlniederlage mit einem Kanzlerkandidaten Scholz ist groß. An der Basis seien viele Mitglieder überzeugt, mit Pistorius ließe sich ein deutlich besseres Wahlergebnis erzielen, sagten mehrere SPD-Politiker aus Bundes- und Landesebene, die sich nicht namentlich zitieren lassen wollen, am Wochenende dem Tagesspiegel. „Unsere Leute sagen immer wieder, sie hörten von Freunden und Familie“, sagt ein SPD-Politiker: „Scholz wähle ich nicht noch einmal, Merz auch nicht, aber Pistorius würde ich wählen.“

„Bei vielen Abgeordneten geht es um die Existenz“

Pistorius sei der beliebteste Politiker, er biete allen SPD-Bundestagsabgeordneten eine höhere Chance, wiedergewählt zu werden als Scholz, sagt ein SPD-Politiker: „Bei vielen Abgeordneten geht es um die Existenz.“ Zuweilen änderten sich die Dinge in der Politik schneller als man erwarte.

Bisher hielten die meisten Funktionäre dem Druck von unten Stand, sagte ein anderer SPD-Politiker, gäben diesen Druck nicht an die Parteispitze weiter. Es sei aber offen, wie lange das so bleiben werde. Womöglich werde die Unruhe in der SPD-Fraktion größer, wenn die Nominierungen in Wahlkreisen und auf Landeslisten erfolgt seien. Die SPD stellt derzeit 207 Abgeordnete, bei Umfragewerten um 15 Prozent wären es etwa 110 Abgeordnete.

„Eine gefährliche Situation“

Bei der Bundestagswahl 2021 hatte die SPD 25,7 Prozent erzielt. Die in den vergangenen Jahrzehnten oft zerstrittenen Sozialdemokraten galten damals und heute als geeint. Insofern sei die derzeitige Situation „gefährlich“, sagte ein SPD-Politiker: „Wir müssen und alle hinter dem Kanzlerkandidaten versammeln, der es am Ende wird.“ Das könne Scholz, aber eben auch Pistorius sein.

Diverse Umfragen sprechen für eine Nominierung von Pistorius, der seinerseits eine Kanzlerkandidatur nie offensiv angestrebt hat. Mehrfach hat der Verteidigungsminister für Scholz geworben.

Trägt Scholz Pistorius die Kandidatur an?

Einen „Putsch“ werde Pistorius nicht anzetteln, heißt es in SPD-Kreisen. Mehrere SPD-Politiker hoffen, Scholz werde nach der Abstimmung über die Vertrauensfrage am 16. Dezember Pistorius die Kandidatur antragen. „Es hängt sehr davon ab, was Scholz bei der Vertrauensfrage sagen und wie er auftreten wird“, heißt es in SPD-Kreisen. „Ich habe so eine Situation“, sagt ein erfahrener SPD-Politiker, „noch nie erlebt.“

„Der Druck kommt von unten“, sagt ein weiterer SPD-Politiker, „solch eine Bewegung habe ich noch nie gesehen.“ Sie richte sich weder gegen Esken noch gegen Klingbeil, sondern gegen Scholz. Während es in der SPD-Fraktion noch „überwiegend ruhig“ sei, sei der Unmut in Ortsvereinen und Unterbezirken groß. „Das sind diejenigen, die den Wahlkampf machen. Das kann explodieren.“

Bisher sprechen sich Klingbeil, Esken, der neue Generalsekretär Matthias Miersch und andere SPD-Spitzenpolitiker für Scholz als Kanzlerkandidaten aus. Bekommt die Führung die Stimmung an der Basis nicht mit?

„Ich glaube“, sagt ein SPD-Politiker, „sie wissen, wie Stimmung ist. Aber niemand will der Königsmörder sein.“ Scholz und Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt befänden sich in einer „Blase“. Sie wollten die Lage aussitzen, „aber der Druck nach dem 16. Dezember wird nicht auszuhalten sein“.

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