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Politik: Das Prinzip Verantwortung

Japan fragt sich: Wo soll das Geld für die Renten herkommen? Bisher kümmerten sich die Jungen um die Alten

Alte Männer überall. In blauen Uniformen lotsen sie Autofahrer an Baustellen vorbei und in Parklücken vor großen Supermärkten, manche verteilen Werbebeilagen. Das älteste Volk der Welt geht auf die Straße, wenn die Rente knapp wird. Nicht zum Demonstrieren, sondern zum Arbeiten. Schon jetzt arbeiten mehr als 60 Prozent aller 65-jährigen Japaner, um sich etwas dazuzuverdienen.

Zwischen 1970 und 1994 stieg die Zahl der über 65-Jährigen in Nippon von sieben auf 14 Prozent der Gesamtbevölkerung. Schweden brauchte für diesen Sprung 85 Jahre, Frankreich gar 115. 2014 wird in Japan ein Viertel der etwa 127 Millionen Japaner das Rentenalter überschritten haben. Über eine Million hat bereits jetzt den 90. Geburtstag hinter sich. Seit fast zehn Jahren schon gibt es mehr alte als junge Menschen. Im Fernsehen bringen sie jede Menge Gesundheitstipps für Senioren, verraten, wie man sich jenseits der 80 noch fit hält. Und die Industrie verdient mit PflegeRobotern, Hirntrainingsspielen und Modemarken für alte Menschen, die schließlich derzeit drei Viertel des Gesamtvermögens in Japan halten. An der wichtigsten Frage jedoch kommt auch Japan nicht vorbei: Woher soll man in Zukunft das Geld für die Renten nehmen?

Dabei geht es um „Giri“ – um Verantwortungsgefühl. Wenn die „shigarami“, die Bande, die Familie, Kollegen und Gesellschaft stets zusammenhielten, auch schwächer geworden sind, so bleibt doch das Gefühl, für das Wohlergehen der Alten mitverantwortlich zu sein. Bis 1947 war im Familiengesetz festgeschrieben, dass sich der älteste Sohn zusammen mit der Schwiegertochter um die alternden Eltern kümmern musste – und dafür das gesamte Vermögen der beiden bekam. Bis in die frühen 80er Jahre lebten 70 Prozent der Senioren bei ihren Kindern, 1996 waren es immerhin noch 52 Prozent. Um diese Tradition am Leben zu halten, versprach der „Gold-Plan“ von 1990 den Söhnen Belohnungen dafür, dass sie ihre Eltern im Alter pflegten. Im April 2000 wurde der Gold-Plan außer Kraft gesetzt, weil immer mehr Frauen einen Job statt Kinder wollten und für die Pflege ihrer Schwiegereltern nicht zur Verfügung standen. Seitdem gibt es eine Pflegepflichtversicherung für alle Bürger. Daneben gibt es seit 1961 ein Pensionssystem, das zurzeit noch dafür sorgt, dass die jüngeren Alten finanziell besser gestellt sind als die älteren Alten, denen die Jahre vor 1961 bei der Pensionsberechnung fehlen. Damit bekommen Japans Rentner umgerechnet rund 500 Euro Grundrente plus 28,5 Prozent ihres mittleren, durchschnittlichen Einkommens. In den letzten Jahren kürzte die Regierung Neurentnern allerdings die Pensionen und sagte bereits zugesagte Anpassungen ab. Die Devise heißt: weniger Rente und länger arbeiten. Im Reich der aufgehenden Sonne gibt es dagegen kaum Proteste.

Die acht Millionen Japaner, die in den nächsten zwei Jahren in Ruhestand gehen, werden ohnehin weitgehend versorgt sein: Obwohl es längst auch private, teilweise sehr luxuriöse Altenheime gibt, werden die meisten Alten noch immer von Familienangehörigen versorgt. Weil in Japan seit jeher kaum öffentliche Gelder für soziale Dienste bereitgestellt wurden. Weil als „bedürftig“ nur jene Bürger eingestuft werden, die keine Kinder haben. Und weil speziell in Städten wie Tokio die Jungen immer auch von den Alten profitieren – Wohnraum ist teuer, da lohnt es sich durchaus für beide Seiten, näher zusammenzurücken. Und dann ist da ja schließlich noch Giri. Ein Verantwortungsgefühl, das in den letzten zehn Jahren übrigens auch zu einer Selbstmordwelle unter greisen Japanern führte, die ihrer Familie nicht länger zur Last fallen wollten.

Silke Pfersdorf[Tokio]

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