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Politik: „Der Aufschwung muss alle erreichen“

DGB-Chef Michael Sommer über Wachstum, Mindestlöhne – und was Merkel besser macht als Schröder

Herr Sommer, haben Sie sich schon bei Gerhard Schröder entschuldigt?

Wie käme ich dazu? Ich wüsste nicht, wofür ich mich zu entschuldigen hätte.

Schröders Reformkurs, den der DGB so heftig bekämpft hat, gilt als Grundlage des heutigen Aufschwungs. Wäre es da nicht an der Zeit, dass der DGB-Vorsitzende den einen oder anderen Irrtum einräumt?

Moment mal! Den Aufschwung verdankt Deutschland doch nicht Gerhard Schröder oder der großen Koalition. Dieser Aufschwung ist das Ergebnis der guten Arbeit aller Beschäftigten und der anhaltend guten Weltkonjunktur. Es ist unser aller Aufschwung. Gerhard Schröder hat doch mit seiner Agenda- und Hartz-IV-Politik für tiefe Verunsicherung und Misstrauen in der Bevölkerung gesorgt und so die Binnenkonjunktur abgewürgt. Rot-Grün hat damit den Aufschwung eher blockiert.

Haben die Gewerkschaften damals nicht eben jene Verunsicherung befördert, für die Sie Rot-Grün verantwortlich machen?

Politik wird in diesem Land noch immer von denen verantwortet, die sie machen. Wir haben Forderungen – und wir reagieren natürlich, wenn Politik aus unserer Sicht schiefläuft.

Was haben die Gewerkschaften zum Aufschwung beigetragen?

Bei Lichte besehen ist die gute weltwirtschaftliche Entwicklung verantwortlich. Dass wir außenwirtschaftlich davon profitiert haben, liegt sicher an den wettbewerbsfähigen Lohnstückkosten und den flexiblen Arbeitszeitmodellen. Ohne Gewerkschaften wäre das nicht gegangen. Allerdings würde ich nicht sagen, das sei allein unser Aufschwung.

Nach den moderaten Tarifabschlüssen der letzten Jahre fordern Sie nun kräftige Lohnerhöhungen. Ökonomen warnen aber, einen lang anhaltenden Aufschwung könne es nur bei maßvollen Erhöhungen geben.

Ich mache diesen Job nun schon ein paar Jahre. Und noch nie hat es eine Lohnrunde gegeben, in der konservative Ökonomen und Arbeitgeber nicht vor einem angeblich drohenden Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft gewarnt haben. Was wir brauchen, ist eine Stärkung der Kaufkraft der Bevölkerung. Dieser Aufschwung darf nicht nur wenige, sondern muss möglichst alle in Deutschland erreichen. Dann wird es mit dem Land auch wieder bergauf gehen.

Der Bundespräsident hat vorgeschlagen, Arbeitnehmer stärker am Unternehmenskapital zu beteiligen. Wäre jetzt nicht die Gelegenheit günstig, um Investivlöhne zu vereinbaren?

Der DGB mischt sich nicht in die Tarifpolitik ein. Aber richtig ist: Die Arbeitnehmer brauchen jetzt sichere Einkommenserhöhungen und nicht nur Einmalzahlungen. Wenn die Tarifpartner Investivlohnmodelle als Plus obendrauf vereinbaren, dann wäre das okay. Was wir nicht wollen, ist ein Ersatz von Tariferhöhungen durch Investivlöhne.

Das hört sich nicht danach an, als lägen Ihnen Investivlöhne besonders am Herzen.

In den laufenden Tarifrunden spielen Investivlöhne keine herausragende Rolle, das stimmt. Natürlich sprechen auch wir darüber, wie man die Menschen am besten an dem von ihnen erarbeiteten Reichtum teilhaben lassen kann. Aber das ist ein kompliziertes Thema, in dem noch viele Detailfragen zu klären sind.

Herr Sommer, was ist eigentlich falsch an der gängigen These vom schwindenden Einfluss der Gewerkschaften?

Wir haben – wie auch Parteien und Kirchen – Mitgliederverluste, das stimmt. Aber ein Schwinden gewerkschaftlichen Einflusses kann ich nicht erkennen.

Zu Schröders Zeiten haben Sie ohne Erfolg gegen Hartz IV mobilisiert, heute ziehen Sie erfolglos gegen die Einführung der Rente mit 67 und die Unternehmensteuerreform der großen Koalition zu Felde. Gibt Ihnen das nicht zu denken?

Langsam. Infolge der Agenda-Politik haben nicht wir zehn Wahlen verloren, sondern die SPD. Fünf Millionen Arbeitslose auf dem Höhepunkt dieser Politik haben Gerhard Schröder das Kanzleramt gekostet. Für ihre Agenda-Politik ist die SPD von den Menschen abgestraft und durch eine große Koalition ersetzt worden…

…die jetzt gegen den Widerstand der Gewerkschaften die Rente mit 67 und die Unternehmensteuerreform durchsetzt.

Die aktuelle Mehrheit im Bundestag lässt SPD und Union mit der Arroganz der Macht Entscheidungen treffen, die wie bei Schröder gegen die Betroffenen gerichtet sind. Solange ältere Menschen keine Chance auf Beschäftigung haben, ist die Rente mit 67 schlicht eine Rentenkürzung. Deshalb hat die SPD ja ein schlechtes Gewissen und lässt eine Arbeitsgruppe Vorschläge erarbeiten, wie die Folgen gemildert werden können.

Eine Arbeitsgruppe, an der die Gewerkschaften beteiligt sind…

…nur in Unterarbeitsgruppen. Die Stimmung der Arbeitnehmer in den Betrieben ist seit der Rentenreform so dermaßen schlecht, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Das verzeihen viele Menschen dieser Regierung nicht. Wir werden weiter dagegen kämpfen, bis in den Bundestagswahlkampf 2009 hinein. Wenn sich die unzureichende Beschäftigung älterer Menschen nicht ändert, muss die Entscheidung revidiert werden. Und was die Unternehmensteuerreform anbelangt: Innerhalb der SPD nehme ich ein sehr kontroverses Meinungsbild wahr. Warten wir also ab, ob die notwendigen Mehrheiten zustande kommen.

Glauben Sie wirklich, die Unternehmensteuerreform könnte am Widerstand aus der SPD scheitern?

Ich kann die Koalition nur davor warnen, den vorliegenden Entwurf des Gesetzes zu beschließen. Ursprünglich hat ein Jobgipfel zu rot-grünen Zeiten eine aufkommensneutrale Steuerreform beschlossen – mit Zustimmung der Union. Dem haben auch wir zugestimmt. Was jetzt auf dem Tisch liegt, ist nicht aufkommensneutral. Man kann doch nicht auf der einen Seite den kleinen Leuten über eine Mehrwertsteuererhöhung Milliarden aus der Tasche ziehen und das Geld ein paar Monate später mit vollen Händen an die Unternehmen ausschütten. So eine gegen die Menschen gerichtete Politik wird weder die SPD noch die Union ihren Wählern erklären können. Beide Koalitionsparteien sollten nicht darauf hoffen, dass die Menschen so dumm sind und nicht wahrnehmen, was hier passiert.

Der Finanzminister sagt, ohne die Reform verliert Deutschland Milliardeneinnahmen, weil die Konzerne Gewinne im Ausland versteuern.

Über eine kostenneutrale Änderung der Steuersätze könnte man ja diskutieren. Wir brauchen aber keine steuerliche Entlastung der Unternehmen. Es ist doch eine Schimäre, dass das deutsche Steuersystem nicht wettbewerbsfähig sei. Ja, wir haben höhere nominale Steuersätze als anderswo. Allerdings gibt es in Deutschland so viele Ausnahmen, dass die faktischen Steuerzahlungen schon jetzt im europäischen Mittelfeld liegen. Die Argumente der Koalition sind doch windig: Diejenigen, die jetzt steuerlich entlastet werden, sind genau dieselben – vornehmlich die Dax-30-Konzerne –, die sich dumm und dämlich verdienen. Sie sind im internationalen Wettbewerb hervorragend aufgestellt.

Mit der Reform sollen die Steuerschlupflöcher ja gerade geschlossen werden.

Mit den gleichen Argumenten ist 2000 schon mal eine Unternehmensteuerreform umgesetzt worden. Dieses Land hat danach 30 Milliarden Euro Steuern verloren, ohne dass auch nur ein Arbeitsplatz geschaffen oder eine Betriebsverlagerung ins Ausland verhindert wurde. Soll das noch mal passieren? Wenn diese Regierung ernsthaft im Sinn hätte, das europäische Steuersystem zu verbessern, dann würde Finanzminister Peer Steinbrück im Rahmen der EU-Präsidentschaft eine Harmonisierung der Steuerberechnungsgrundlagen anschieben und umsetzen. Darüber wird nämlich schon seit mehr als fünf Jahren ergebnislos verhandelt. Stattdessen senkt der Minister die Steuersätze ab und eröffnet damit einen europaweiten Wettlauf um noch niedrigere Steuern.

Man könnte glauben, Sie seien Mitglied der Linkspartei, hört man Sie so reden.

Bin ich aber nicht.

Trotzdem ist die inhaltliche Nähe der Gewerkschaften zu Lafontaine und Co. unübersehbar, die Distanz zur SPD wächst.

Vielleicht sollten wir uns gerade zum 1. Mai daran erinnern, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg als Einheitsgewerkschaft entstanden sind. Unsere Gründungsväter waren Kommunisten, Christen und Liberale. Und wir haben festgestellt, dass wir immer dann erfolgreich sind, wenn wir uns nicht an eine Partei binden. Ich sage das auch immer wieder in die eigenen Reihen hinein: Wir sind und bleiben politisch unabhängig und lassen uns nicht von einer Partei vereinnahmen. Auch nicht von der Linkspartei.

Eine der wenigen Forderungen, die Sie derzeit mit der SPD verbinden, ist die nach Einführung eines Mindestlohnes. Bis wann erwarten Sie Erfolge?

Natürlich wird es das Verhältnis von SPD und Gewerkschaften entspannen, wenn wir bei den Mindestlöhnen faktisch vorankommen. Ich bin sehr gespannt, ob die Koalition nach ihrem nächsten Spitzentreffen am 14. Mai den Menschen die kalte Schulter zeigen und sagen wird, man habe sich nicht einigen können. Spätestens, wenn 2008 das Postmonopol in Deutschland fällt und ein Jahr später die Dienstleistungsmärkte für europäische Dumpinglöhner geöffnet werden, werden uns alle recht geben. Dann nämlich wird der freie Fall der Löhne erst richtig losgehen, und ich prophezeie Ihnen, dass die CSU und die CDU die Ersten sein werden, die aufschreien, wenn Postboten für Hungerlöhne Briefe austragen. Wir kämpfen für einen Mindestlohn, der 7,50 Euro nicht unterschreiten darf. Die Mehrheit der Bevölkerung steht hinter uns. Auf Dauer können auch die Parteien das nicht ignorieren – selbst die Union nicht.

Ist es nicht ein Armutszeugnis für die Gewerkschaften, dass sie nach staatlichen Mindestlöhnen rufen müssen, weil sie es nicht mehr aus eigener Kraft schaffen, Tariflöhne für viele arbeitende Menschen durchzusetzen?

Die Realität ist, dass es immer mehr Branchen gibt, die sich der grundgesetzlich verankerten Tariffindung entziehen, und mittlerweile Millionen Menschen von Armutslöhnen leben müssen. Dass Gewerkschafter einen Tarifvertrag unterschrieben haben, der Thüringer Friseuren Stundenlöhne von 3,81 Euro erlaubt, geschah aus blanker Not. Glauben Sie mir, wir führen intern eine sehr intensive Debatte über die Tarifautonomie. Dort, wo sie funktioniert, brauchen wir auch keine Mindestlöhne. Allerdings brauchen wir sie dort, wo sie versagt, wo die gewerkschaftliche Organisationskraft schwindet und sich Arbeitgeber flächendeckend der Tarifbindung entziehen. Deshalb reicht es auch nicht aus, wenn wir mehr Branchen ins Entsendegesetz aufnehmen. Denn dort, wo es gar keine Tarifstrukturen mehr gibt, brauchen wir gesetzlich festgelegte Mindestlöhne. Die untere Schranke muss bei 7,50 Euro Stundenlohn liegen.

Erwarten Sie ein Machtwort der Bundeskanzlerin an die Kritiker in der Union?

Von Angela Merkel habe ich noch nicht gehört, dass sie sich hinter die platte Ausrede der Union stellt, die da heißt: Mindestlöhne kommen nicht infrage. Ich entnehme dem, dass die Kanzlerin für eine Regelung offen ist und dafür sorgen wird, dass die Menschen von dem Geld leben können, das sie erarbeiten. Es ist doch eine Perversion der Marktwirtschaft, wenn Millionen Arbeitnehmer den ganzen Monat arbeiten und sich dann einen Teil ihres Einkommens und die Miete vom Staat bezahlen lassen müssen.

Eine Fotografie in Ihrem Büro zeigt Sie lächelnd mit der Bundeskanzlerin. Trügt der Eindruck, dass Sie mit Frau Merkel besser klarkommen als mit Ihrem Vorgänger?

Die Zusammenarbeit ist sachorientierter und emotional gelöster mit der großen Koalition. Das bedeutet nicht, dass wir inhaltlich mehr übereinstimmen als mit Rot-Grün. Aber das Klima gibt uns die Möglichkeit, unsere Forderungen vorzutragen, und das Gefühl, ernst genommen zu werden. Das ist ein Fortschritt.

Das Gespräch führten Stephan Haselberger und Antje Sirleschtov.

ZUR PERSON

NACHKRIEGSKIND

Sommer kennt Armut: Am 17. Januar 1952 als Sohn einer Kriegerwitwe geboren, musste er als Kind in Berlin Kohlen schleppen, während seine Mutter auf Wochenmärkten Käse verkaufte.

GEWERKSCHAFTER

Sommer, der sich sein Politologie-Studium mit einem Post-Job finanzierte, trat früh in die Deutsche Postgewerkschaft ein, für die er von 1980 an hauptberuflich arbeitete. 2001 wurde er Vizechef von Verdi, seit 2002 steht er an der Spitze des DGB.

GENOSSE

Seit 1981 in der SPD, brachte er die Gewerkschaften auf Konfrontationskurs gegen die Reformpolitik von Gerhard Schröder.

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