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Politik: Der deutsche Sonderweg

Die Entscheidung für ein Kind fällt den Frauen hierzulande schwerer – weil schon der Staat eine dreijährige Berufspause empfiehlt

Berlin - Seit 1972 liegt die Zahl der Geburten in Deutschland Jahr für Jahr unter dem Niveau des Nachkriegsjahrs 1946. Diese Entwicklung, die im Gefolge des „Pillenknicks“ alle Industrienationen erreicht hat, ist in Deutschland besonders ausgeprägt. Die Geburtenrate, die Zahl der Kinder pro Frau, liegt nur bei 1,3. Im Jahr 2005 ist die Geburtenzahl erstmals unter 700 000 gesunken. Was in Deutschland unmachbar scheint, schaffen aber viele andere Länder: die Geburtenrate als entscheidende demografische Größe dem ständigen Abwärtstrend zu entziehen.

Wer wissen will, warum Deutschland das nicht gelingt, erfährt beim Blick in die Statistik: Die Zahl der Frauen, die überhaupt keine Kinder bekommen, ist in Deutschland besonders hoch. Und sie nimmt ständig zu, besonders bei den gut ausgebildeten Frauen. Die Entscheidung für Kinder ist seit Mitte der 60er Jahre in allen Industrieländern eine bewusste Entscheidung; die Französin oder Schwedin trifft sie aber offenbar leichter als ihre deutsche Schwester. Am bloßen Volumen staatlicher Leistungen für die Familie liegt es nicht, denn da nimmt Deutschland mit Kindergeld, Steuerfreibeträgen, Baukindergeld, Erziehungsgeld und etlichen anderen Transferleistungen einen im internationalen Vergleich vorderen Platz ein. Sie sollen jetzt auf den Prüfstand, finden SPD und Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU). Denn die Kehrseite der privaten Transfers ist eine strukturelle Schwäche: Bei Kindergärten und Ganztagsschulen liegt Deutschland hinten.

Beides, die hohen privaten und die schwachen öffentlichen Transfers, hat tiefe kulturelle Wurzeln: In Deutschland ist Bevölkerungspolitik ein verpönter Begriff, aber nur hier gibt es den Begriff der Rabenmutter. Beides ist das ambivalente Erbe unserer Geschichte; nicht zufällig kämpfen Japan und Italien mit ähnlichen Mustern.

Die Politik in Deutschland hat den Geburteneinbruch der 70er Jahre deshalb nicht als Frage von staatlichem Interesse behandelt. Privatsache ist nicht nur die Entscheidung für Kinder; privat blieben in Deutschland auch die praktischen und Gewissenskonflikte junger Menschen, vor allem der Frauen, zwischen Flexibilitätsdruck und Kinderwünschen. Das Erziehungsgeld, Mitte der 1980er Jahre eingeführt, ist Ausdruck eines deutschen Sonderwegs: Während in allen Nachbarländern daran gearbeitet wurde, jungen Frauen Kinder und Beruf zu ermöglichen, war in Deutschland Mutterschaft von Staats wegen mit der Empfehlung einer 3jährigen Berufspause verbunden. Die Umbenennung in „Elternzeit“ änderte wenig: Väter nehmen sie selten. Mit dem geplanten Elterngeld, das für ein Jahr wie eine Lohnersatzleistung gezahlt werden soll, verabschiedet sich Deutschland von diesem Sonderweg.

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