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…und wer später kommt, steht vor Sanaas Tankstellen Schlange. Fotos: Katharina Eglau

© Katharina Eglau, Winterfeldtstr.

Politik: Der Jemen vor dem Kollaps

Die Wirtschaft am Boden, Energiemangel legt das Leben lahm – doch dem Regime könnte das nützen

In Zehnerreihen lauern die Autos vor der Tankstelle. Zwischen den Zapfsäulen lungern Männer herum und spielen mit ihren Gewehren. Benzin gibt es seit Tagen nicht mehr, der ölig-schwarze Hof ist mit einer dicken Kette abgesperrt. „So eine Krise gab es noch nie“, sagt Saed Shatabi. Der 33-Jährige ist Taxifahrer, hat Wirtschaftswissenschaften studiert und schlägt sich seit Jahren mit einem Monatseinkommen von umgerechnet 140 Euro für sich, seine Frau und seine kleine Tochter durch. Seit anderthalb Wochen wartet er hier, sein Taxi steht etwa einen Kilometer entfernt im hinteren Teil der Schlange. Die Schwarzmarktpreise für Sprit kann er sich nicht leisten, dann bliebe für ihn am Monatsende gar nichts mehr übrig. Sie liegen inzwischen fünf bis sieben Mal so hoch wie an den offiziellen Tankstellen.

„Jemen steht vor dem totalen wirtschaftlichen Kollaps“, sagt der Vize-Wirtschaftsminister des Landes, Jalal Yaqoub. Die Zeit vor dem Beginn des Machtkampfs zwischen dem Regime von Präsident Ali Abdullah Saleh, der Opposition und der Jugendbewegung erscheint ihm inzwischen „wie Lichtjahre entfernt“. Dabei war der Jemen auch damals schon, vor fünf Monaten, mit 1800 Euro jährlichem Pro-Kopf-Einkommen das Armenhaus der arabischen Welt. Nach Schätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) liegt die Inflationsrate bei etwa 30 Prozent. Die wirtschaftlichen Einbußen 2011 summieren sich auf 12 Milliarden Euro, das ist knapp die Hälfte der jährlichen Wirtschaftsleistung des ganzen Landes.

Mitte März sprengten Stammeskämpfer die wichtige Rohöl-Pipeline zwischen Marib und der Hafenstadt Aden in die Luft und nehmen seither jeden unter Feuer, der sie reparieren will. Plötzlich konnte Jemen die Hälfte seines Rohöls nicht mehr exportieren und die eigene Raffinerie in Aden nicht mehr beliefern. Und auch wenn die zweite Export-Pipeline des Landes vom Masila-Feld im Hadramaut zum Hafen Mukalla noch funktioniert: Dem Jemen geht der Treibstoff aus. Die Hälfte der Öl-Deviseneinnahmen ist durch den Sabotageakt weggefallen, mit den restlichen Exporterlösen müssen nun auf dem Weltmarkt Benzin und Diesel zugekauft werden, die bislang aus der eigenen Raffinerie kamen. Gut 30 Prozent des Bedarfs lassen sich damit noch decken – dem ganzen Land droht der Stillstand.

Drei Viertel aller Fabriken mussten bereits schließen, Hotels stehen leer, bald wird der Staat keine Gehälter mehr zahlen können. „Das Ganze ist ein ökonomisches, soziales und humanitäres Desaster“, urteilt Mohamed Jubran, Wirtschaftsprofessor an der Universität von Sanaa. Seiner Meinung nach heizt das Regime von Ali Abdullah Saleh die Krise zusätzlich an, „um die Leute mit ihren täglichen Sorgen so in Atem zu halten, dass sie den Präsidenten als ihren Retter ansehen.“ Bei einem Attentat schwer verbrannt, liegt der 69-jährige Potentat seit Anfang Juni in einem saudischen Militärkrankenhaus und denkt nicht daran, das Feld zu räumen.

Und so liegen auch weiterhin jeden Abend weite Teile der Hauptstadt Sanaa im Dunkeln, Geschäftsleute hocken bei Kerzenlicht zwischen ihren Auslagen. Studenten können sich nicht auf ihre Examen vorbereiten, der Müll wird nicht mehr abgeholt. In den Krankenhäusern verderben wertvolle Medikamente, weil sie nicht mehr gekühlt werden. In der Stadt Hodeida starben vier Säuglinge, weil ihre Inkubatoren ausfielen. Auf den Dörfern gibt es tagelang überhaupt keinen Strom mehr. Die Bauern können ihre Felder nicht mehr bewässern, weil der Diesel für die Pumpen fehlt. Und sie können ihre Ernte nicht mehr in die Städte bringen und verkaufen.

So spricht Gian Carlo Cirri vom Welternährungsprogramm (WFP) inzwischen von der „schlimmsten humanitären Krise im Jemen seit Menschengedenken“. Millionen Bewohnern drohe Hunger. Die Preise für Brot, Zucker und Milch sind seit Beginn der Massendemonstrationen vor fünf Monaten um 40 bis 60 Prozent gestiegen. Schon vorher war jeder dritte der 22 Millionen Einwohner unterernährt. Und nun feilschen die Menschen in den Straßen von Sanaa erbittert um jedes Stück Brot. „Nichts ist mehr stabil“, sagt Saed Shatabi, der Taxifahrer ohne Sprit. „Ich habe große Angst vor einem Bürgerkrieg. Jeder hat inzwischen eine Waffe – ich auch.“

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