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Politik: Der Kreml schlägt zurück

Moskau will, dass Bürgerrechtsorganisationen einen Boykott von Protestmärschen unterzeichnen

Als sich der Beauftragte für Menschenrechte, Wladimir Lukin, und seine für die Zivilgesellschaft zuständige Kollegin Ella Pamfilowa Anfang der Woche im russischen Präsidentenamt mit Bürgerrechtlern trafen, waren die Hauptpersonen nicht anwesend. Die Bürgerrechtler hatten in einem offenen Brief von Präsident Wladimir Putin eine Untersuchung der Zwischenfälle bei Protestmärschen in St. Petersburg und Nischnij Nowgorod im März sowie die Bestrafung der Schuldigen verlangt. Doch weder Putin noch die Opfer von Übergriffen der Ordnungskräfte waren am Montag mit dabei.

Jugendliche aus gutbürgerlichen Familien und Erwachsene waren bei den Demonstrationen von Polizisten mit Gewalt verhaftet und stundenlang in Arrestzellen festgehalten worden. Sie wurden, so die Angaben der Betroffenen, wie Terroristen verhört, ihnen wurden Fingerabdrücke, Blut- und Urinproben abgenommen. Der Präsident schickte nun seine Beamten vor. Weniger, um die Vorwürfe zu klären, sondern vielmehr um eine von Experten der Kremladministration verfasste Anti-Extremismus-Charta vorzustellen. Mit deren freiwilliger Unterzeichnung sollen sich Parteien und politische Bewegungen zum Boykott von Protestmärschen verpflichten. Lachhaft sei das, sagte dazu Ljudmila Alexejewa, Präsidentin der Moskau-Helsinki-Gruppe und schon zu Sowjetzeiten aktiv in der Dissidentenbewegung. Wegen Extremismus gehöre momentan vor allem der Staat selbst vor Gericht.

Dass der Kreml die Charta gerade jetzt präsentiert, liegt für Alexejewa nahe. Für das Wochenende sind neue Protestmärsche geplant. Darunter in Moskau, dessen Bürgermeister Jurij Luschkow von Putin für eine weitere Amtszeit bestätigt werden will. Der zentrale Puschkinplatz, schon in der Sowjetunion ein Treffpunkt von Regimekritikern, sei bereits für eine andere Veranstaltung vergeben, erfuhren nun die Organisatoren des Anti-Putin-Marsches. Dabei hatten sie ihren Umzug nach eigenen Angaben zum frühestmöglichen Zeitpunkt angemeldet.

Der Marsch soll dennoch stattfinden. Beobachter rechnen mit ähnlichen Übergriffen wie in Nischnij Nowgorod Ende März. Um einen Protest von 2000 Demonstranten aufzulösen, waren 30 000 Sicherheitskräfte zusammengekommen, rund 200 Teilnehmer wurden festgenommen. Mit ähnlichem Aufwand hatten Ordnungskräfte zuvor ebenfalls schlecht besuchte Demonstrationen in Moskau und St. Petersburg aufgelöst.

Dabei muss der Präsident wegen dieser Proteste bisher gar nicht um seine Macht fürchten. Bei der Generalprobe für die Parlamentswahl im Dezember und die Präsidentschaftswahl in einem Jahr, den Regionalwahlen Anfang März, blieb die demokratische Opposition weit unter der neuen Sieben-Prozent-Sperrklausel und hat daher kaum Chancen auf den Wiedereinzug in die Duma. Eng werden könnte es sogar für die Kommunistische Partei. Das Bündnis „Gerechtes Russland“ unter Führung von Senatspräsident Sergej Mironow gräbt ihr die Stimmen ab.

Zum Teil hat sich die Opposition selbst ins Abseits manövriert – mit kleinlichem Gezänk und taktischem Ungeschick. Kollektiver Organisator der gegenwärtigen Protestmärsche ist daher eine neue Bewegung: „Das andere Russland“, ein loses Bündnis von Linken und Demokraten. Sie versuchen, was bisher stets misslang – sich auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners und über ideologische Gräben hinweg zusammenzuraufen, um die Massen aus ihrer Lethargie zu reißen. Ihr Erfolge ist bescheiden, doch schon wird viel getan, um zu verhindern, dass „Das andere Russland“ zu einer echten politischen Kraft wird. Erst vergangene Woche beschloss Moskaus Stadtduma, Treffen nur noch zuzulassen, wenn sich dabei nicht mehr als zwei Personen einen Quadratmeter Bodenfläche teilen.

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