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Politik: Der Neue ist der Alte

Frankreichs Präsident lehnt den Rücktritt von Premier Raffarin ab – er soll über Nacht eine neue Regierung bilden

Zwei Tage nach der schweren Wahlniederlage der französischen Konservativen bei den Regionalwahlen herrschte bei den führenden Konservativen am Morgen zunächst trügerische Ruhe. Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie bereitete ihre Kosovo-Reise vor, Außenminister Dominique de Villepin konzentrierte sich auf einen bevorstehenden Berlinbesuch, Staatspräsident Jacques Chirac schien sich auf seine Moskaureise vorzubereiten.

Doch um kurz nach neun Uhr schlug eine Nachricht ein, die für viele Franzosen schwer zu verdauen sein wird: Jean-Pierre Raffarin bleibt Premierminister. Zuvor hatte er bei Staatspräsident Jacques Chirac seinen Rücktritt eingereicht – doch sein Wunsch blieb ungehört. Chirac nahm das Gesuch zwar an, ernannte ihn aber unmittelbar danach erneut zum Regierungschef. Über Nacht muss Raffarin ein neues Kabinett zusammenstellen, das an diesem Mittwoch präsentiert werden soll. Angesichts der Entwicklung hat Chirac seinen Besuch in Moskau verschoben und Villepin seine Berlinvisite abgesagt.

Für Premier Raffarin dürfte die Regierungsbildung keine leichte Sache werden. Er gehört zwar nicht zur Chirac-Clique, hat sich aber zwei Jahre lang redlich bemüht, für Frankreichs Bürgerliche die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Der Lohn: Bei den Regionalwahlen musste er zusehen, wie die Sozialisten selbst in seiner Heimatregion Poitou-Charentes über die Hälfte der Stimmen erhielten. In den Pariser Cafés und Bistros war die Meinung über Chiracs Manöver klar: Der glücklose Provinzpolitiker Raffarin, Spitzname „der Diener“, sei vom Präsidenten offenbar dazu auserkoren, seine eigene politische Zukunft zu retten. Er solle wohl die schmerzlichen Sozialreformen durchziehen und sich „zum Wohl des Landes weiter verbrauchen“.

Das Präsidialamt und der Staatssekretär in Raffarins Büro, Dominique Bussereau, teilten lediglich mit, Schwerpunkte der Regierungsarbeit seien künftig die Beschäftigungspolitik, die „Garantie des sozialen Zusammenhalts“ und die Gesundheitspolitik. Die Reformen würden fortgesetzt, hieß es vage.

Doch genau diese Unklarheiten hatten die Franzosen am vergangenen Sonntag zu einem beispiellosen Protestvotum veranlasst. Sie wählten in 21 französischen Regionen das Regierungslager ab. Die linke Opposition aus Sozialisten, Grünen und Kommunisten erzielte ihr bestes Ergebnis seit 1981 und gewann mit 50,3 Prozent. Lediglich das Elsass blieb in konservativer Hand.

Politische Beobachter, Zeitungskommentatoren und selbst Politiker der Chirac-Partei UMP – die freilich unter vorgehaltener Hand – sind sich einig, dass Chiracs unbedingter Wille, Raffarin zu halten, ein schlechter politischer Schachzug ist. Spätestens bei den Europawahlen am 13. Juni, so heißt es in den Fluren der Regierungsparteien UMP und der liberalen UDF erwarte das Regierungslager eine neue Wahlschlappe. „Es gibt keine andere Lösung als eine Art Elektroschock. Im Interesse Frankreichs muss der Regierungschef ausgetauscht werden, auch wenn das vielleicht ungerecht ist“, sagte der UMP-Abgeordnete Pierre Méhaignerie, einer der wenigen, die es überhaupt wagen, sich öffentlich zu äußern. „Die Situation ist absolut verfahren, alle Köpfe in der Regierung müssen ausgetauscht werden“, äußerte ein anderer UMP-Abgeordneter, Xavier de Roux.

In Paris geht die Angst um, dass schon die nächste Ankündigung einer Reform zu einem Aufstand in der Bevölkerung führen könnte. Mehr und mehr wird klar, dass das konservativ-bürgerliche Lager, das sich erst vor zwei Jahren unter dem Namen UMP (Mehrheit für den Präsidenten) gründete, tief gespalten ist. Die unter dem UMP-Dach mitregierende liberale Partei UDF unter Francois Bayrou trat bei der ersten Runde der Regionalwahlen mit eigenen Listen an. Von vielen Konservativen wird dieser Alleingang für das Desaster verantwortlich gemacht. Noch gravierender aber dürfte die Spaltung innerhalb der Rechten sein. Die einen favorisieren den „braven Soldaten“ Raffarin, die anderen wollen den erfolgreichen Innenminister Nicolas Sarkozy als Premier sehen. Er gilt als rotes Tuch für Chirac, weil er keinen Hehl daraus macht, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2007 Chiracs Amtssessel im Elysée-Palast anzustreben.

Seinen Wunschkandidaten, Parteichef Alain Juppé, kann Chirac indes nicht an die vorderste Front schicken, weil der erst vor zwei Monaten wegen einer Korruptionsaffäre verurteilt wurde und sein passives Wahlrecht verloren hat. Deshalb steht die UMP nun mit einem unbeliebten Regierungschef da und bald ohne Parteichef. Doch auch die Sozialisten haben es nicht leicht. Sie haben kein Programm, keine neuen Persönlichkeiten und sich bereits das einstige Mitterrand-Motto verordnet: „Die größten Siege sind am schwierigsten umzusetzen.“

Sabine Heimgärtner[Paris]

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