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Politik: Der schönste Tag der DDR. Die Demonstration vom 4. November 1989 war eine Manifestation der Freiheit (Kommentar)

Vermutlich war die Kundgebung auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 die größte Kundgebung in der Geschichte der DDR.

Vermutlich war die Kundgebung auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 die größte Kundgebung in der Geschichte der DDR. Aber nicht nur das macht den Rang dieses atemberaubenden Ereignisses aus. Es besetzt auch einen strategischen Punkt in der Entwicklung des Herbstes 1989. Denn in dieser gewaltigen Manifestation kumulierten alle die Proteste und Demonstrationen, die in den Wochen zuvor die DDR erschüttert hatten. In ihrer Massivität und ihrer unüberwindlichen Friedfertigkeit machte sie die Kraft der Entwicklung erkennbar, die in der DDR herangewachsen war - und bereitete damit auch den Boden dafür, dass fünf Tage später aus dem Zufall der Schabowski-Äußerung Geschichte wurde. Zugleich schien in dieser Demonstration eine historische Möglichkeit sichtbar zu werden: eine eigenständige Entwicklung der DDR in Richtung auf einen freie, demokratische, irgendwie sozialistische Ordnung, kurz: eine andere DDR.

Insofern verstärkt dieser 4. November auch die Sehnsuchtsmelodie, die seither schattenhaft über den vergangenen zehn Jahren hängt oder sie im Untergrund begleitet - die Klage über versäumte Möglichkeiten der Vereinigung, der Vorbehalt gegenüber ihrer Tatsächlichkeit. Musste es denn sein, dass die DDR so rasch vom Westen überrollt wurde, von ihren Parteien, ihren Unternehmen, ihren Strukturen? Wäre es nicht besser gewesen - auch für die Vereinigung -, wenn die DDR zunächst einmal zu sich selber gefunden hätte? Wenn es eine reformierte DDR gegeben hätte, in dem sie eigene demokratische Strukturen hätte ausbilden und ihre Wirtschaft hätte umstellen können - vielleicht nicht auf Dauer, aber doch als eine Art Schonraum, in dem sie sich für die Vereinigung hätte fit machen können? Hätte nicht alles wenigstens langsamer gehen können, bedachter, gebremster?

Es trifft ja zu, dass bei dieser Kundgebung von Wiedervereinigung noch nicht die Rede war. Abgesehen davon, dass sie von der Abrechnung mit der real existierenden DDR bestimmt war, richteten sich die Forderungen ganz auf die Umgestaltung und Erneuerung der DDR. Eine demokratische Gesellschaft sollte entstehen, ohne Stasi und die Herrschaft von Apparat und Partei, und, ja doch, ein Sozialismus, der seinen Namen verdient, "nicht der Stalinsche, der Richtige" (Stefan Heym). Auf dieser Plattform hatten viele Platz, auch - trotz der Proteste, die ihnen entgegenschlugen - die Schabowski und sogar Wolf, aber auch solche, die, wie der Bürgerrechtler Jens Reich, mit dem Sozialismus nie etwas am Hut gehabt hatten.

Diese Verheißung einer anderen DDR war eine der Unterströmungen der Herbst-Revolution. Sie scheint in vielen Ereignissen und Postulaten auf, je früher, desto deutlicher, sie trägt zum nicht ganz geringen Teil die Runden Tische und auch noch ein Stück weit die Regierung de Maizière. Aber nie war sie so nahe, ja, fast greifbar wie an diesem Nachmittag. Vielleicht war es das, was - über die mitreißende Kraft einer freien Massenversammlung hinaus - seinen Glanz ausmachte. Vielleicht ist das aber auch ihr problematisches Erbe. Denn wie aussichtsreich war dieser Gedanke? Hatte er je eine Chance gegen das überwältigende Entwicklungs-Gefälle, das in den unterschiedlichen Niveaus der beiden Deutschlands steckte und von der die Maueröffnung fünf Tage später einen ersten Eindruck vermittelte?

Um das zu bezweifeln, muss man gar nicht an den gewaltigen Druck denken, mit dem die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen West und Ost einschließlich Konsum- und Reisewünschen wenig später an der deutsch-deutschen Konstellation mitzuformen begannen. Schon die Rednerschar, die auf dem Alexanderplatz auftrat, zeigte ein Spektrum, das kaum zu einem gemeinsamen Willen zusammenzufügen war. Eine DDR von Christa Wolf bis zu Friedrich Schorlemmer kann man sich vorstellen, eine von Jens Reich oder Marianne Birthler bis Markus Wolf nicht. War der 4. November also doch nicht so sehr ein politischer Anfang als vielmehr, wie Jens Reich gesagt hat, "Politik als Fest"? Der Hauch von Eintracht, der über dieser Kundgebung lag, verlor seinen Prozess gegen die reale Vereinigung, die wenig später Gestalt annahm, und musste ihn verlieren. Alle gegenteiligen Annahmen sind der Stoff zu Lebenslügen.

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