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Muammar Gaddafi: Der Tod des Tyrannen

Er war der dienstälteste Potentat der ganzen Welt, vielleicht verrückt, auf jeden Fall gefährlich. Jetzt ist Muammar Gaddafi tot. Das ist sicher. Wie es dazu kam, nicht. Und wie es in Libyen weitergeht auch nicht.

Das Handyfoto war der erste Beweis. Die Haut leichenblass, die Augen halb offen, das Hemd in Fetzen. Blutstreifen laufen über das Gesicht mit der breiten Nase und den schwarzen wirren Haaren. Acht Wochen nach der Flucht aus seiner Betonfestung Bab al Aziziya in der libyschen Hauptstadt Tripolis hat Muammar Gaddafi am Donnerstag sein Schicksal ereilt. Ob er tot ist oder schwer verletzt, darüber gab es über mehrere Stunden lang gegensätzliche Meldungen. Am Nachmittag erklärte dann der Sprecher des Nationalen Übergangsrates (NTC), Abdel Hafez Ghoga, Gaddafi sei nicht mehr am Leben. „Wir verkünden der Welt, dass Gaddafi in den Händen der Revolution gestorben ist“, sagte er triumphierend. „Das ist das Ende von Tyrannei und Diktatur in Libyen.“

Ähnlich widersprüchlich blieben über Stunden auch die Nachrichten über Gaddafis Gefangennahme und sein Ende. Die Rebellen meldeten zunächst, sie hätten den Despoten aus einem Loch gezogen, wo er sich versteckt hielt. Die Nato in Brüssel bestätigte, sie habe am Morgen zwei Pro-Gaddafi-Fahrzeuge am Stadtrand von Sirte bombardiert, wollte aber den Tod des Despoten bis zum Abend nicht offiziell bestätigen. Andere Kämpfer wiederum behaupteten, sie hätten den Konvoi des Diktators unter Feuer genommen, als dieser mit seinen engsten Getreuen entlang der Küstenstraße aus Sirte zu fliehen versuchte, nachdem die Aufständischen die Stadt nahezu vollständig unter ihre Kontrolle gebracht hatten.

In ganz Libyen jedenfalls feierten die Menschen diesen historischen Tag mit Hupkonzerten, Freudenschüssen und „Allah ist groß“-Rufen. Aus Autoradios dröhnte die Hymne der Aufständischen, vor dem Gerichtsgebäude an der Corniche von Bengasi, lange Zeit das Hauptquartier der Rebellen, fielen sich die Menschen in die Arme in einem Meer von rot-grün-schwarzen Rebellenfahnen. Endlich ist für sie der Bürgerkrieg vorbei. Endlich kann Libyen in eine neue Zukunft gehen. Endlich ist nach acht Monaten erbittertem Kampf der Sturz des verhassten Regimes vollendet. Denn nach dem Fall von Gaddafis Geburtsstadt Sirte dürfte der letzte Widerstand von Regimetruppen in der Wüstenstadt Bani Walid ebenfalls zusammenbrechen. Und dann ist der Nationale Übergangsrat Libyens zum ersten Mal Herr im ganzen Land.

Seit dem 21. August befand sich der Diktator auf der Flucht vor seinem Volk, nachdem die Rebellen sein Hauptquartier in Tripolis erobert hatten. Immer wieder meldete er sich fortan über den syrisch-irakischen Satellitensender Arrai mit Hetzreden zu Wort. Wochenlang kursierten die wildesten Gerüchte über seinen Aufenthaltsort. Mal wurde er im Niger vermutet, dann in der Oasenstadt Bani Walid oder auch nahe der Wüstenstadt Ghadames im Dreiländereck zwischen Libyen, Tunesien und Algerien. Zahlreiche seiner Generäle setzten sich schon vor Wochen in den Niger ab. Ehefrau Safiya und Tochter Aischa sowie die Söhne Mohammed und Hannibal flohen nach Algerien. Sohn Saadi wurde im Niger aufgespürt. Von seinen verbliebenen Söhnen Mutassim, Khames und Saif al Islam dagegen fehlt nach wie vor jede Spur.

42 Jahre lang stand Muammar Gaddafi an der Spitze der „Großen Sozialistischen libysch-arabischen Volksrepublik“ - und war damit der dienstälteste Potentat der ganzen Welt. Geboren wurde der Despot im September 1942 nahe der Küstenstadt Sirte. Er entstammte einer Beduinenfamilie und wuchs als jüngstes von vier Kindern in bescheidenen Verhältnissen auf. Sein Vater kämpfte gegen die italienische Kolonialarmee und saß dafür in Haft. 1962 begann Sohn Muammar ein Studium der Geschichtswissenschaft und Jura an der Universität Bengasi, das er abbrach. 1963 nimmt ihn die Militärakademie von Bengasi auf, er wurde Offizier und unter anderem in Großbritannien ausgebildet.

Als er 27-jährig am 1. September 1969 gegen König Idris I. putschte, regierten in China Mao Zedong, in Russland Leonid Breschnew und in den USA Richard Nixon. Auf internationalen Treffen trat der libysche Despot gerne in bunten Fantasieuniformen auf, umringt von seiner legendären weiblichen Leibgarde. Oder er kampierte mitten in fremden Hauptstädten im Wüstenzelt. Anfangs galt Gaddafi im Westen als unbestechlich – und nicht an persönlichem Reichtum interessiert. Doch schon bald änderte sich das Bild: Libyen startete ein geheimes Atomprogramm, finanzierte Aufständische und Terrorgruppen in allen Winkeln der Erde. In den 80er Jahren führte der erratische Herrscher sein Land immer stärker in die außenpolitische Isolation, nicht nur in der arabischen Welt, auch gegenüber dem Westen. Einen „tollwütigen Hund“ nannte ihn der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan mal. Bei dem Anschlag auf die Berliner Diskothek „La Belle“ wie auch bei den Bombenexplosionen 1988 an Bord eines US-amerikanischen Jumbo-Jets über Lockerbie sowie 1989 an Bord eines französischen Flugzeugs über dem Niger führten die Spuren nach Tripolis.

Nach drei Jahrzehnten Paria-Status und internationalen Sanktionen kam dann 1999 die überraschende Wende. Gaddafi gab seine Atompläne auf und entschädigte die Familien der Opfer von Lockerbie. 2006 nahmen die USA und Libyen nach 35 Jahren Unterbrechung diplomatische Beziehungen auf. Seitdem reisten Geschäftsleute aus aller Welt nach Tripolis. Denn Libyen gehört wegen seines Ölreichtums neben Algerien zu den wohlhabendsten Nationen Nordafrikas, auch wenn Gaddafi durch seine pseudo-kommunistischen Eskapaden und seine Dauerkonfrontation mit dem Westen Milliardensummen verschleuderte und darum nur ein kleiner Bruchteil des Geldes bei den 6,5 Millionen libyschen Bürgern ankam. Die Arbeitslosigkeit war groß, in manchen Regionen lag sie bei bis zu 30 Prozent. Eine freie Presse gab es nicht, auch keine Verfassung, nur Unterdrückung durch einen allgegenwärtigen Geheimdienst.

Libyens Nationaler Übergangsrat hat für die nächsten Monate bereits einen Fahrplan Richtung Demokratie verkündet, die Ausarbeitung einer Verfassung versprochen sowie die Zulassung von Parteien. Gleichzeitig wird nach dem gewaltsamen Ende Gaddafis die ganze humanitäre, politische und gesellschaftliche Katastrophe des libyschen Bürgerkrieges noch einmal schlagartig deutlich. Mindestens 25 000 Tote haben die Gefechte gefordert, es gab mehr als 50 000 Verletzte. Mehr als eine Million Menschen, die früher in Libyen gelebt und gearbeitet haben, sind geflohen.

Zurück geblieben ist eine Gesellschaft, deren soziales und politisches Gewebe in Fetzen liegt. Das riesige, ölreiche Land steht nun in seiner Stunde null, ohne an irgendwelche demokratischen Vor-Gaddafi-Erfahrungen anknüpfen zu können. Aus der Königszeit geblieben sind den Menschen lediglich eine Fahne und ein paar romantische Erinnerungen. Tragfähige zivile und staatliche Institutionen, die den Machtübergang stabilisieren könnten, gibt es in Libyen kaum. Stattdessen hantiert inzwischen fast jeder im Land mit einer Waffe. Ganze Wohnviertel, Straßen und Städte liegen in Trümmern. Von Tausenden Gaddafi-Opfern fehlt nach wie vor jede Spur – auch der Weg zu einer innerlich versöhnten Gesellschaft wird lang und beschwerlich werden. Die Bevölkerung aber feierte nun erst einmal ausgiebig ihre endgültige Befreiung von dem größenwahnsinnigen „Führer der Führer Arabiens, König der Könige Afrikas und Imam aller Muslime“.

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