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Die richtige Saite. Die Berliner Philharmoniker auf Tour, hier 2014 in der New Yorker Carnegie Hall

© Rob Davidson / Stiftung Berliner Philharmoniker

Deutsche Orchester sind Unesco-Weltkulturerbe: Das klingt gut

Vor 500 Jahren begann die Entwicklung der Orchester in Deutschland. Jetzt wurden sie als immaterielles Weltkulturerbe geadelt. Zu Recht!

Es ist immer wieder ein magischer Moment, wenn ein Orchester vor Konzertbeginn sein chaotisches Stimmengewirr erzeugt, um dann auf den Einsatz der Solo-Oboe zu hören und mit dem Stimmton „a“ für einen Moment einen harmonischen Klang hervorzubringen. In diesem Ritual, mit dem täglich Hunderte von Konzerten beginnen, findet sich schon die ganze Kraft des Klangkörpers, genannt Orchester, in dem sich bisweilen mehr als hundert Musiker mit ihren Instrumenten zu einem Klang, einer Schwingung und für die Dauer des Konzerts zum gemeinsamen Ausdruck einer Komposition vereinen.

Das Orchester, ein von seiner Zusammensetzung und seiner historischen Entwicklung her, seinen Aufgaben und Erfordernissen ebenso komplexes wie bedeutendes Gebilde abendländischer Kultur, verkörpert eine besondere Welt. Und eine fragile. Sie erlebte in den über 500 Jahren ihrer Geschichte Wandel und Krisen, Begeisterung und Gefährdung. So ist es sicher ein politischer Erfolg, dass im Dezember 2014 nun die deutschen Orchester (gemeinsam mit den Theatern) von der Deutschen Unesco-Kommission in die neue bundesweite Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen wurden.

Wird die Auszeichnung auch mehr Geld bringen?

Offen bleibt, ob das, wie gewünscht, zu besserer Absicherung und Finanzierung führen wird – wie es Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrats, der die Bewerbung angeschoben hat, forderte: „Die Aufnahme der deutschen Theater- und Orchesterlandschaft ist ein großer Erfolg für die kulturelle Vielfalt in unserem Land. Damit sollte auch eine Trendwende für mehr Investitionen in diesen kulturellen Schatz verbunden sein – eigentlich eine Selbstverständlichkeit für die viertstärkste Industrienation der Welt.“

Das Spektrum in Deutschland ist groß und vielfältig: Professionelle Symphonie- und Theaterorchester (rund 130 gibt es hierzulande, 560 weltweit), Laien- und Jugendorchester vereinen tausende Musikerinnen und Musiker. Orchestermusik gehört zu besonderen Ereignissen, wie 2014 das Mauerfalljubiläum, bei dem es fast im Stundentakt Orchesterkonzerte gab und kein Silvester ohne Beethovens „Neunte“. Orchester bespielen heute jeden nur entfernt geeigneten Raum – bis hin zur ausrangierten Schwimmhalle. Das Stadtbad Wedding in Berlin etwa.

Moderne Musik im alten Schwimmbad

An einem dunklen regnerischen Oktoberabend des vergangenen Jahres ist der Eingang in der Gerichtstraße kaum zu finden, zur Lounge-Musik warten im Foyer einige hundert junge Leute mit Bierflasche in der Hand auf den Einlass. Im ehemaligen Bad selbst, das von lilafarbenen Spots in sanftes Licht getaucht wird, sitzt man mit oder ohne Kissen auf den Fliesen und lauscht dem Violinkonzert von Arnold Schönberg, einem der herausforderndsten Werke der Musikgeschichte. Aber es ist genau das, was das Publikum wollte, jedenfalls wird am Ende laut Bravo gerufen. Das Ensemble Mini mit seinem Dirigenten Joolz Gale zeigt hier, dass das geht: schwierige Musik an junges Publikum vermitteln.

Und doch muss man sich Sorgen um die Zukunft dieser Kulturform machen. Sie steht unter großem wirtschaftlichen Druck – und das mit dramatischen Folgen. Allein in Deutschland sind in den vergangenen 20 Jahren fast 40 professionelle Orchester verschwunden. In Arbeitsplätzen ausgedrückt: Im Zeitraum von 1992 bis heute wurden gut 2300 Planstellen in Orchestern abgeschafft, das sind 20 Prozent aller in den sogenannten Kulturorchestern fest angestellten Musiker. Auch der Blick ins Ausland verheißt nichts Besseres, ob die Oper in Rom, der Dänische Rundfunk, die Orchester in den Niederlanden – überall wird reduziert und eingespart. Ein Paradoxon: Denn die ständig steigenden Besucherzahlen sind hoch wie selten zuvor in der jahrhundertealten Geschichte der Orchester.

Der Adel fing an, dann übernahmen die Komponisten: Wie Orchester den Dünkel verloren

Die richtige Saite. Die Berliner Philharmoniker auf Tour, hier 2014 in der New Yorker Carnegie Hall
Die richtige Saite. Die Berliner Philharmoniker auf Tour, hier 2014 in der New Yorker Carnegie Hall

© Rob Davidson / Stiftung Berliner Philharmoniker

Bis in die Zeit um 1500 geht es zurück, um deren Anfänge zu finden. Damals meinte Orchester instrumentale Musik, die von einer Gruppe dargeboten wird. Der Begriff „Orchester“ ist freilich viel älter und bezeichnet im Griechischen das Halbrund eines Amphitheaters, den Tanzplatz, der für alle Zuschauer einsichtig ist. Heute sitzt nun in Amphitheatern ähnlichen Sälen wie der Berliner Philharmonie genau dort das Orchester. Die ersten Orchester aus dem 16. und 17. Jahrhundert kennen noch nicht diese Art und Form öffentlicher Konzertsäle, sondern spielen in Theatern, in Kirchen oder in den Prunksälen musikliebender Schlossherren. Ihre Aufgaben: Operngesang zu begleiten, den Gottesdienst auszuschmücken oder die Fürsten zu ergötzen. Die Musiker entstammten unterschiedlicher Herkunft und wurden kombiniert, die Stadtpfeifer und die Militärmusiker ergänzten die Streicherensembles.

Der junge Beethoven veranstaltete Akademien, um seine Werke aufzuführen

Die ältesten heute noch bestehenden Orchester erkennt man an der Bezeichnung „Kapelle“. So war die Berliner Staatskapelle zu Zeiten der Monarchie auch die Hofkapelle und mit Oper, Konzerten und sogar militärischen Aufgaben beschäftigt. Viele kleinere Fürstenhöfe leisteten sich Orchester, berühmte Beispiele sind Mannheim oder das Orchester der Esterházys, mit dem Joseph Haydn die Entwicklung der klassischen Symphonie als Mustergattung für Orchester vorantreiben konnte.

Mit den geschichtlichen Veränderungen entwickelten sich auch Aufgaben und Strukturen der Orchester. Zum Ende des 18. Jahrhunderts entstand in Wien und andernorts erstmalig ein Konzertleben außerhalb der Adelskreise. Mozart und vor allem Beethoven veranstalteten „Akademien“, um eigene Werke vorzustellen. Dazu stellten sie Orchester zusammen, in denen Mitglieder der Kapellen mit weiteren Musikern, zum Teil auch begabten Amateuren, zusammenwirkten. Mit einem Orchester von mehr als 100 Mann führte Beethoven im Jahre 1813 „Wellingtons Sieg“ auf. Er bewies damit das richtige politische Gespür. Und konnte sich auch finanziell für die kommenden Jahre sanieren.

Neue Instrumente belebten die Orchester

Die Entwicklung eines bürgerlichen Konzertlebens begann. Schon vorher hatten Leipziger Kaufleute das anfangs aus 16 Musikern bestehende „Gewandhausorchester“ gegründet. Dazu kamen wesentliche Entwicklungen im Instrumentenbau, durch die neue Instrumente in die Orchester kamen. Das klassische Orchester basierte auf einem Streichersatz mit chorisch, also mehrfach besetzten Stimmen von den höchsten Streichinstrumenten, den Violinen, über Bratschen und Violoncelli bis zum Fundament der Kontrabässe. Dazu kommen die Holzbläser, Flöte, Oboe, Klarinette und als Blechbläser zunächst Trompete und Horn, später auch Posaune und Tuba. Nicht zu vergessen Pauken und Schlagzeug, Relikte aus der Militärmusik. Mit diesem Orchester haben im Prinzip alle Komponisten von Haydn bis Bruckner, also über einen Zeitraum von 100 Jahren, gearbeitet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit weiteren Erfindungen im Instrumentenbau werden die einzelnen Instrumente zu ganzen Familien erweitert, es gibt dann von der Kontrabassflöte über Bass-, Tenor- und Altflöte bis zur Piccolo den ganzen Tonraum in einem Instrumentenklang. Damit wurden die Komponisten zu neuen Klangwirkungen angetrieben.

Die Bilse'sche Kapelle war Vorläufer der Berliner Philharmoniker

Neue private Orchesterstrukturen entstehen im 19. Jahrhundert. Bekanntestes Beispiel ist der Walzerkönig Johann Strauß, der es verstand, seine Fähigkeiten als Komponist und Dirigent auch in klingende Münze umzusetzen. Oder auch Benjamin Bilse, dessen 1854 gegründete Kapelle ab 1867 in der Leipziger Straße in Berlin mehr als 3000 Konzerte gab und der Vorläufer der heutigen Berliner Philharmoniker war. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die meisten deutschen Großstädte mindestens zwei professionelle Orchester, ein Opernorchester und ein meist „Philharmonisches Orchester“ genanntes Ensemble für Konzerte. Ende der 1920er Jahre brauchte man mit dem Aufkommen des Rundfunks Orchester, um Sendematerial zu produzieren, es entstanden die bis heute bestehenden Rundfunkorchester – und damit ein buntes Nebeneinander von Opernorchestern (meist Teil der staatlichen oder städtischen Theater), Symphonieorchestern (die städtischen Konzertorchester) und Rundfunkorchestern (aus Rundfunkgebühren finanziert). Und die sind heute nur ein Ausschnitt aus der gesamten Szene. Es gründeten sich Spezialorchester für barocke Musik oder originale Instrumente, für romantische Musik oder für besondere Spielweisen. Außerdem wurden Ensembles für Neue Musik gegründet – wie das Ensemble Modern – und ganz allgemein entstand in den 1970er Jahren eine Bewegung, die am künstlerischen Selbstverständnis der Musiker ansetzte.

Dem voraus ging das Aufkommen großer Jugendorchester, aus denen mehrfach freie Orchester ausgegliedert wurden, bei denen die Musiker als Gesellschafter an wesentlichen Entscheidungen und damit auch an Erfolg oder Misserfolg beteiligt sind. Darunter sind Orchester wie das Chamber Orchestra of Europe oder die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, die qualitativ mit an der internationalen Spitze stehen und so dem Orchesterleben neue Impulse gegeben haben. Insofern hat ein Wandel stattgefunden wie in anderen Bereichen der Gesellschaft auch, vom streng hierarchisch gegliederten Kollektiv zu einer mehr partizipativen Zusammenarbeit. „Ein Orchester ist wie eine Familie für mich“, sagt Sir Simon Rattle von den Berliner Philharmonikern dazu. Gleichzeitig wurde das Orchester als Männerdomäne gebrochen, und heute gibt es, von Ausnahmen wie den Wiener Philharmonikern abgesehen, ein annähernd gleiches Verhältnis an Frauen und Männern in Orchestern.

Heute streitet man um Geld - und die Bedeutung von Orchestern für die Gesellschaft

Die richtige Saite. Die Berliner Philharmoniker auf Tour, hier 2014 in der New Yorker Carnegie Hall
Die richtige Saite. Die Berliner Philharmoniker auf Tour, hier 2014 in der New Yorker Carnegie Hall

© Rob Davidson / Stiftung Berliner Philharmoniker

Orchester heute ist ein agiles und aufregendes Unternehmen. Um die hundert Individuen mit ihren künstlerischen Vorstellungen müssen integriert werden, der passende Chefdirigent, die Chefdirigentin muss gefunden und gebunden werden, das sind hoch zu bezahlende Stars. Auch dafür muss der finanzielle Rückhalt gesichert sein. Aber es geht nicht nur um Geld. Theater und Orchester seien nicht nur „erhaltenswerte Impulsgeber für neue Entwicklungen“, sie beteiligten sich „mit den Mitteln der Kunst immer häufiger an gesellschaftlichen Debatten und Auseinandersetzungen“, sagte beispielsweise Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, nach der Verkündung der Unesco-Entscheidung – und weiter: „Sie stehen in der Mitte der Gesellschaft.“

Funktionäre hadern mit der Politik, die Handel der Kultur vorziehe

Und wie steht die Gesellschaft zu ihnen? Spiegeln sich nicht in den landauf, landab geführten Diskussionen um Finanzierungsprobleme auch Unsicherheiten im Umgang mit den traditionellen Strukturen von Kulturunternehmen? Manche rufen nach Zukunftskonzepten, die brauche es statt kurzfristiger Spardiktate. Andere wollen mehr Diskurs darüber, was die Aufgaben eines Orchesters heute sein sollen, vor allem, wenn es öffentliche Gelder erhält. Funktionäre wie Höppner hadern mit der Politik, der sie vorwerfen, in Freihandelsabkommen wie TISA den Ausverkauf des Kulturlebens schlechthin zu betreiben. Und in der Meinung des Publikums? Hat ein Wandel vermutlich längst stattgefunden. Denn heute sieht eine Mehrheit nicht mehr nur das Aufführen von Konzerten und die Erhaltung des kulturellen Erbes im Vordergrund, sondern verbindet mit Orchester auch Aufgaben im Bereich musikalischer Bildung – für jedermann.

Philharmonie Berlin, Foyer, vor dem Konzert: Mehr als 500 Besucher vom Großvater bis zum Kleinkind hören gebannt zu, wie die Musikpädagogin mit einigen Musikern des DSO eine spezielle Einführung für Familien gibt. Weniger musikwissenschaftliche Fakten sind hier gefragt, als auch für Laien Verständliches, und man darf keine Angst davor haben, selbst die Stimme zu erheben.

Bei "Feel the Music" werden Gehörlose ins Orchester gesetzt

Oder Philharmonie Köln: Der Pianist Leif Ove Andsnes probt Beethovens Klavierkonzerte mit dem Mahler Chamber Orchestra. Im Publikum eine Gruppe Gehörloser, die später mitten im Orchester sitzen und über das Berühren des Konzertflügels und anderer Instrumente die Schwingungen wahrnehmen können.

Dieses inzwischen preisgekrönte Projekt „Feel the music“ zeigt, wie Musiker sich mit Erfolg auch sehr spezifischen Zielgruppen zuwenden können. Das professionelle Wahrnehmen dieser Bildungsaspekte scheint als Überlebensstrategie notwendig, denn der Musikunterricht in den allgemeinbildenden Schulen findet immer weniger statt. Es gab Erhebungen, nach denen in Deutschlands Grundschulen 82 Prozent der Musikstunden ausfallen oder von fachfremden Lehrern gegeben werden. Aber an klassische Musik will ein Publikum herangeführt sein. Die ewig wiederholten Forderungen nach mehr und besserer Musikpädagogik zeigten inzwischen Wirkung: Es gibt erste Studiengänge für Musikvermittlung, und seit einiger Zeit wird auch die pädagogische Arbeit der Orchestermusiker als sogenannter Dienst gezählt, ist damit also offiziell anerkannt und wird vergütet.

Oder die Krise des Repertoires: Auch heute bestehen Konzertprogramme ganz überwiegend aus Musik, die zwischen 1780 und 1920 komponiert wurde. Es ist eine interessante Frage, warum die heutigen Menschen – anders als im Theater oder in der Bildenden Kunst – die Musik von heute so viel weniger zu interessieren scheint. Innovation gibt es heute eher in anderen Bereichen: von Versuchen wie „Vier Jahreszeiten recomposed“ über Konzerte mit Crossover-Programmen, Projekten wie der „Yellow Lounge“, „Casual concerts“, „Radiale Nächte“ – allein in Berlin gibt es eine Vielzahl an Experimenten aus den Orchestern heraus, alle möglichen Parameter wie Ort, Zeit und Formate zu hinterfragen.

Andreas Richter

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