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Politik: Die Angst ist zurück

Die meisten Moskauer waren gerade auf dem Weg zur Arbeit, als in einer U-Bahn eine Bombe explodierte

Wjatscheslaw Diatschenko hatte Glück, dass er nur das Ende des Zuges erreicht hatte. Als am Freitag die U-Bahn der Moskauer Metro einfuhr, mit der Diatschenko jeden Morgen zur Arbeit ins Stadtzentrum fuhr, stieg er in den siebten Waggon ein, den vorletzten des Zuges. Als im zweiten Wagen eine Bombe explodierte, war Diatschenko von den Bombensplittern, der Druckwelle und dem anschließenden Feuer durch fünf Waggons getrennt. Doch obwohl Diatschenko und die anderen Passagiere zunächst nur einen scharfen Knall hörten, wusste offenbar sofort jeder, was geschehen war. „Eine Bombe!“, schrieen viele Passagiere. Denn die Moskauer leben seit langem mit der Angst vor Attentaten. Und in gewissem Sinn war es nur eine Frage der Zeit, wann es auch die Metro treffen würde.

Moskaus 166 U-Bahn-Stationen sind zwar nicht so leicht zugänglich wie im Westen: In fast jeder Station gibt es ein Polizeirevier; Polizisten kontrollieren häufig Dokumente und Gepäck von Passagieren. Doch diese Proben sind keine wirksamen Kontrollen angesichts von schätzungsweise neun Millionen Menschen, die die Metro jeden Tag benutzen. Vor allem im Berufsverkehr ist die Metro ein ideales Ziel für Terroristen, die mit einem Anschlag möglichst viele Opfer treffen wollen. Wie fast alle Züge, die am Morgen ins Stadtzentrum fahren, war auch der Zug, der um kurz nach halb neun Uhr die Station Autosawodskaja verließ und zur Haltestelle unter dem Paweletzkij-Bahnhof ins Zentrum weiterfuhr, voll besetzt. In jedem der acht Wagons drängelten sich mehr als 100 Passagiere. Der Zug hatte erst ein paar hundert Meter hinter sich gebracht, als im zweiten Waggon eine möglicherweise in einem Koffer versteckte Bombe explodierte – offenbar war es ein Selbstmordattentat.

Die Gewalt der Explosion, die nach Angaben der Polizei einem Kilo TNT gleichkam, zerriss nicht nur den zweiten, sondern auch den dritten Waggon. Mehrere Dutzend Menschen wurden auf der Stelle getötet, darunter auch Arbeiter, die in der Nähe der Explosion gerade mit Wartungsarbeiten beschäftigt waren. Der Zugführer konnte den in Brand geratenen Zug per Notbremsung zum Stehen bringen. Auch in den hinteren Wagons fiel das fahle Licht der Notbeleuchtung auf blutüberströmte Gesichter.

Nach offiziellen Angaben starben mindestens 39 Menschen; Helfer des Katastrophenschutzes gingen von bis zu 50 Toten aus. Gut 700 Passagiere überlebten leicht verletzt. Rund 130 Menschen wurden in Moskauer Krankenhäuser eingeliefert, 21 von ihnen schweben in Lebensgefahr. Die staatliche Nachrichtenagentur Itar-Tass berichtete, ein kaukasisch aussehender Mann habe vor dem Anschlag einer U-Bahn-Angestellten gesagt: „Ihr werdet einen Feiertag erleben!“ Der Pressesprecher der Moskauer Polizei gab das Phantombild eines schätzungsweise 40 Jahre alten Mannes mit „kaukasischem Aussehen“ heraus. Präsident Wladimir Putin gab sich präziser: „Wir wissen sicher, dass Maschadow und seine Banditen mit diesem Terrorakt verbunden sind.“ Doch Achmed Sakajew, Bevollmächtigter des 1997 gewählten tschetschenischen Präsidenten und heutigen Rebellenführers Aslan Maschadow, verurteilte den Anschlag als „blutige Provokation“. Weder Maschadow noch seine Regierung seien daran beteiligt.

Doch in Tschetschenien sind längst nicht alle Rebellen in der „Regierung“ – vor allem nicht Schamil Bassajew. Der radikale Rebellenführer hat schon mehrere Terroranschläge auf sich genommen: etwa die Geiselnahme im „Nordost“-Musicaltheater. Am 9. Dezember waren fünf Passanten gestorben, als die Bombe einer Selbstmordattentäterin vor dem Moskauer Hotel National explodiert war. Bereits am 5. Dezember waren 46 Menschen ums Leben gekommen, als eine Selbstmordattentäterin sich in einem Zug in Südrussland in die Luft sprengte. Bassajew erklärte, alle Russen seien legitime Ziele, da in Tschetschenien selbst „unvergleichlich mehr junge Menschen sterben, von denen die überwältigende Mehrheit unschuldig ist.“

Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts WZIOM-A zufolge glaubt nur ein Drittel der Russen an die Kreml-Version, in Tschetschenien werde der „internationale Terrorismus“ bekämpft. Nur ein Fünftel der Befragten ist dafür, militärische Handlungen in Tschetschenien fortzuführen; zwei Drittel sind für sofortige Friedensverhandlungen mit den Rebellen. Doch der Kreml fährt eine andere Linie. „Russland spricht nicht mit Terroristen. Es vernichtet sie“, kommentierte Putin nach dem Anschlag Forderungen nach Friedensverhandlungen in Tschetschenien.

Florian Hassel[Moskau]

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