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Politik: Die Bedeutung kommt später

Von Rüdiger Schaper

Was für ein Drama! Da steht ein Prachtbau in der Landschaft, ein Hauptbahnhof, wie ihn Berlin, wie ihn Deutschland lange nicht gesehen hat – und Bauherr und Architekt überziehen einander mit wüsten Beschuldigungen. Der erbittert geführte Streit geht um eine Decke, die angeblich das Gesamtkunstwerk verschandelt, um ein zu kurz geratenes Glasdach und um einen Stahlträger, der sich im Sturm gelöst hat. Glücklicherweise kam beim Absturz dieser tonnenschweren Last niemand zu Schaden, die Sicherheitsmängel wurden schnell behoben. Doch das merkwürdige Schauspiel geht weiter. Nach dem Orkan „Kyrill“ bilden sich juristisch-mediale Stürme oder auch nur Verwirbelungen, die man wahlweise „Hartmut“ – nach Bahnchef Mehdorn – oder „Meinhard“ – nach Baumeister von Gerkan – taufen kann.

Die Erfahrung jedoch, und auch das ist ein Glück, lehrt etwas anderes. Acht Monate nach der Eröffnung hat sich der Berliner Hauptbahnhof triumphal etabliert, als Abrundung und Krönung des Hauptstadtumbaus im Spreebogen. Große Bauwerke, so sie diesen Namen verdienen, entwickeln ein Eigenleben. Sie emanzipieren sich von ihren Auftraggebern ebenso wie von ihren Erbauern. Der neue Hauptbahnhof – dafür spricht die Empirie der Reisenden – ist besser als die Bahn. Und Gerkans Protest hinsichtlich Dach und Decke erweist sich als Phantomschmerz. Dem Glaspalast fehlt es an nichts.

Ob Köln, Paris oder London – die innerstädtischen Bahnhöfe galten als Kathedralen des 19. Jahrhunderts. Hier fuhr man ein in den Bauch der modernen Metropolen, hier drängte sich das neue, technisierte Leben, hier entstand einmal das, was man heute selbstverständlich als Mobilität bezeichnet. Damals entwickelte sich das Reisen – und auch daran darf man nach „Kyrill“ und seinen Folgen erinnern – zu einer weitgehend vom Wetter unabhängigen Angelegenheit. Bahnhöfe waren ebenso ein Hort der Romantik wie des Fortschrittsglaubens. Und wie die gotischen Kathedralen, deren Geschichte übrigens so manchen Einsturz, manche Statikkatastrophe vor dem Herrn kennt, rutschten eines Tages die großen Bahnhöfe aus der Zeit. Wurden buchstäblich museal – wie der Pariser Gare d’Orsay und der Hamburger Bahnhof in Berlin, wo man heute Kunst betrachtet.

Berlins Hauptbahnhof, als Werk des 21. Jahrhunderts, stellt einen fabelhaften Anachronismus dar, dank der Wiedervereinigung. Die Deutsche Bahn wird wohl nie wieder in ähnlich gewaltigem Maßstab planen. Und wenn die Bahn-Manager darüber nachdenken, künftig den Flughafen Tempelhof zu betreiben, sieht man, wohin der Zug rollt. Tatsächlich erinnert der Hauptbahnhof an Flughäfen neueren Datums wie London-Stansted oder BenGurion in Tel Aviv. Man betritt Shopping Malls mit integriertem Flugbetrieb. Nicht anders bei der Bahn: Vor der Abreise, nach der Ankunft steht der Konsum. Die Existenz des Hauptbahnhofs hat erheblich dazu beigetragen, dass der lästige Ladenschluss verschwand.

Warum nur gehen Mehdorn und Gerkan derart stur und stier aufeinander los? Das Werk ist gelungen, der Hauptbahnhof verbindet nicht nur Städte und Menschen, sondern fungiert auch als Brücke zwischen den Epochen. Da wird wohl um den Platz in der Geschichtsschreibung gestritten. „Wer baute das siebentorige Theben?“, heißt es bei Brecht. Der lesende Fahrgast klappt die Akte Mehdorn/von Gerkan zu, schüttelt den Kopf und schaut hinaus auf die Stadt, das Häusermeer, das vor ihm zurückweicht.

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