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Verschleißerscheinungen zeigt Cameron immer öfter. Neulich zählte er wichtige Reformen auf, die er mit den Liberaldemokraten aber nicht durchsetzen kann. Foto: Georges Gobet/AFP

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Politik: Die Gelassenheit ist futsch

David Cameron kann seine Koalition nur schwer bändigen. Neueste Krise: Die Reform des Oberhauses.

Nicht lang ist es her, da galt der britische Premier David Cameron als Naturtalent, gemacht für sein Amt, das er mit souveräner Gelassenheit ausübte, auch wenn es Krisen hagelte. Erst recht erntete er Ruhm für die Kühnheit, mit der er eine für Großbritannien neue Koalitionsregierung mit den Liberaldemokraten aus dem Boden stampfte. Am Dienstagabend in der Abgeordneten-Bar des Unterhauses sah man einen anderen Cameron. Der Premier, am Nachmittag bei der Begrüßung des französischen Staatspräsidenten François Hollande noch charmant wie immer, steuerte nun mit hochrotem Kopf und ausgestrecktem Zeigefinger auf seinen Parteifreund Jesse Nornan zu. „Premier sehr unglücklich. Animiert und eindeutig aggressiv“, twitterte ein Labourabgeordneter, der Zeuge der Konfrontation war. Norman war der Anführer einer Hinterbänklerrevolte, die Camerons Koalition in ihre schwerste Krise stürzte.

Cameron ist in der Klemme. Auf der einen Seite sieht er sich mit seiner zunehmend rebellischen Partei konfrontiert, die die ewigen Kompromisse der Koalition nicht mehr mittragen will. Auf der anderen Seite die Koalitionspartner und ihr Parteichef Nick Clegg, immer ungeduldiger auf Erfolge wartend, die ihren Popularitätsverlust wettmachen könnten. Niemand weiß, wie lange Cameron beide Seiten noch zusammenhalten kann.

Ihm gegenüber sitzt im Unterhaus der zunehmend selbstsichere und populäre Labourchef Ed Miliband, dessen Partei in Umfragen nun oft zehn Prozent vor den Tories liegt. Wäre jetzt Wahl, könnte Miliband Premierminister werden, notfalls in einer Koalition mit Cleggs Liberaldemokraten. Daran erinnerte Miliband gestern in der Fragestunde den Premier: „Er hat das Vertrauen seiner Partei verloren und das Vertrauen des Landes.“

Die Abstimmung war der schwerste Schlag für Cameron seit der Hinterbankrevolte im November, die das Veto gegen eine EU-Vertragsänderung erzwang. Bei der zweiten Lesung des von Vizepremier Clegg entworfenen Gesetzes zur Reform des Oberhauses war die Rebellion noch größer. Ignoriert man Abgeordnete mit Regierungsfunktion, stimmte die Mehrheit der Fraktion gegen Cameron und seine „nachgiebigen Kompromisse“ mit Clegg. Zwar wurde das Reformgesetz mit Labour-Stimmen in die Ausschüsse verwiesen. Aber den ursprünglichen Zeitplan musste die Regierung angesichts des massiven Widerstands zurückziehen.

„Die Reform ist tot. Niemand will sie“, so Tory Angie Bray, die nach der Abstimmung ihren Job als parlamentarische Unterstaatssekretärin verlor. Die Reform gebe dem Oberhaus eine demokratische Form, aber „keine Substanz“, kritisierte der frühere Außenminister Malcolm Rifkind. Tories sehen hinter dem Wunsch, das ernannte Oberhaus demokratisch zu machen, eine Strategie der Liberaldemokraten, sich eine Dauerrolle als Mehrheitsbeschaffer zu sichern und durch die Hintertür das in einem Referendum abgelehnte Verhältniswahlrecht einzuführen. „Bringt die Oberhausreform als maßvolles, vernünftiges Reformgesetz zurück und wir unterstützen sie“, versprach die Rebellin Eleanor Laing.

„Vertrag ist Vertrag“, beharrte dagegen Clegg gestern. Cameron soll ihm die Oberhausreform als Trostpflaster für die gescheiterte Wahlrechtsreform felsenfest zugesichert haben – ein Versprechen, das er nicht halten kann und das Tories noch mehr empört. „Mit Verfassungsfragen Parteienschacher zu betreiben, ist unakzeptabel“, so Laing.

Liberaldemokraten schießen nun Drohpfeile in alle Richtungen ab. Ein Scheitern der Reform werde eine „Kettenreaktion“ auslösen, warnte einer ihrer Koalitionsarchitekten, David Laws. Sie wollen eine Neuordnung der Wahlkreise nun als Druckmittel gegen die Tories einsetzen. Den Wählern bedeuten diese Verfassungsstreitigkeiten wenig. Dagegen stagnieren Projekte, die unter den Nägeln brennen – vor allem das Wachstum. In einer Grundsatzrede zur Sozialreform trug Cameron radikale Vorschläge zur Sozialreform vor und gab zu, dass sie mit den Liberaldemokraten nicht machbar seien. Auch die Finanzierung der Altenpflege, die Zukunft der Atomstreitkräfte, die Londoner Flughafenexpansion wurden auf die lange Bank geschoben. Die Europapolitik ist ein regelrechtes Pulverfass. Haben sich die Gemeinsamkeiten der Koalition erschöpft?

Beide Parteien sehen nervös auf den Wahltermin 2015. Nick Clegg ist das Profil seiner Liberaldemokraten nun wichtiger als Harmonie auf den Regierungsbänken. Koalitionskritische Liberale wie der linksliberale Wirtschaftsminister Vince Cable, der schon Gespräche mit Labour führte, denken laut über eine „Exitstrategie“ nach. Auf der anderen Seite forderte Tory-Rebell Adam Afriyie gestern offen eine „Neuverhandlung“ des Koalitionsabkommens. Cameron kann nur hoffen, dass Olympia und ein regnerischer Sommer die Gemüter abkühlen.

Matthias Thibaut

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