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Auf dem Al-Nour Platz versammeln sich die Menschen seit Wochen.

© Julius Geiler

Tripoli im Norden: Die Hauptstadt der libanesischen Revolution

Die seit Wochen währenden Massenproteste haben der Stadt neues Leben eingehaucht. Porträt eines bemerkenswerten Wandels.

Es sind 30 Sekunden, die der Welt zeigen, dass Tripoli anders ist.  Es ist die dritte Nacht der regierungskritischen Massenproteste im Libanon und DJ Madi K verwandelt die allabendliche Demonstration in seiner Heimatstadt Tripoli in den wahrscheinlich größten Rave, den die zweitgrößte Metropole des Landes je gesehen hat. Der 29-jährige, der eigentlich Madi Karimeh heißt, steht auf einer Plattform im zweiten Stock einer Ruine, von der es viele in Tripoli gibt.

Vor ihm, auf dem Platz, protestieren tausende Menschen - viele geschmückt mit libanesischen Flaggen - um gegen die Politik der Regierung ihres Premierministers Saad Hariri ein Zeichen zu setzen. Der DJ, der sein Geld sonst mit einem Videospielcenter verdient, packt sein Equipment aus und legt auf. Schnell hat er die Masse auf dem zentralen Al-Nour Platz auf seiner Seite.

Der Platz gleicht nun einem Open-Air Nachtclub, von dem es sonst keinen einzigen in Tripoli gibt.  Die Freunde des DJs filmen seinen spontanen Auftritt und laden die 30-sekündige Sequenz auf Twitter und Instagram hoch. Noch in der Nacht geht das Video viral, Tausende liken und teilen es. Am nächsten Tag ist  Madi Karimeh eine kleine Berühmtheit. Aber was noch viel wichtiger ist: Tripoli ist es plötzlich auch. 

Die ärmste Metropole entlang der Mittelmeerküste

Tripoli, etwa 500.000 Einwohner, zweitgrößte Stadt des Libanon, 85 Kilometer nördlich  der Hauptstadt Beirut gelegen und nach einem Bericht der Weltbank die ärmste Metropole entlang der gesamten Mittelmeerküste. Wenn man noch vor kurzem den Einwohnern der libanesischen Hauptstadt Beirut erzählte, dass man den Tag oder gar ein Wochenende in Tripoli verbringen wolle, reagierten diese meist mit Unverständnis.

Nicht selten bekam man zu hören, dass es dort oben im Norden des Landes für Ausländer gefährlich sei. Dass diese Warnhinweise auch von offizieller Seite ernst genommen werden, beweist der  Internetauftritt des Auswärtigen Amtes zum Libanon, in dem deutschen Staatsbürgern von Reisen nach Tripoli „dringend abgeraten“ wird.

Die Promenade von Tripoli.

© Julius Geiler

So europäisch Beirut ist, mit all seinen Bars und einer für den Nahen Osten außergewöhnlich  exzessiven Clubszene, so arabisch  ist Tripoli. Schon die Suche nach einem Ort, an dem Alkohol serviert wird, ist eine Herausforderung. Sollte man irgendwann fündig werden, wird der Wein auf der Terrasse in Kaffeetassen gereicht, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.  Die Mehrheit der Einwohner sind Anhänger des sunnitischen Islam. Die Stadt gilt als streng religiös. Die meisten Muslima tragen, anders als in vielen anderen Teilen des Libanons, Kopftuch. Rauchende oder gar Alkohol trinkende Frauen sind selten im Straßenbild. 

Nach einer von der UN durchgeführten Studie aus dem Jahr 2015 leben 57 Prozent der Tripolitaner unter der Armutsgrenze, 26 Prozent von ihnen leiden unter extremer Armut. Die Arbeitslosenrate ist enorm und geht soweit, dass nach UN-Angaben in einigen Vierteln der zweitgrößten libanesischen Stadt, bis zu drei Viertel der Einwohner keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Neben der wuchernden Armut und der Herausforderung, einen Job zu finden, litt die Stadt wie kaum eine andere im Libanon unter dem Ausbruch des Syrienkriegs im Jahr 2011. 

Ein Stellvertreterkrieg im Miniaturformat

Es sind knapp 30 Autominuten bis zur syrischen Grenze. Mit Beginn des Krieges flüchteten mehr als 1,5 Millionen Syrer und Syrerinnen in den nahen Libanon. Viele davon blieben in Grenznähe zu ihrem Heimatland - unter anderem in Tripoli. Doch nicht nur der Flüchtlingsstrom sorgte für Chaos, in Tripoli brach mit dem Aufstand des syrischen Volkes gegen den langjährigen Diktator Baschar Al-Assad, ein regelrechter Stellvertreterkrieg in Miniaturformat aus. So stellen die Sunniten zwar die Mehrheit in der Stadt, gleichzeitig gibt es eine vergleichsweise große Minderheit von etwa 50.000 Alawiten, die grundsätzlich mit dem syrischen Regime und dem alawitischen Machthaber Assad sympathisieren.

Hunderte, vor allem junge Sunniten aus Tripoli schlossen sich den Terroristen des „Islamischen Staates“ an, auch um gegen die Streitkräfte der Assad-unterstützenden syrischen Armee in den Krieg zu ziehen. Dagegen wird der syrische Diktator durch Kämpfer der schiitischen Hisbollah-Miliz aus dem Libanon unterstützt. Während die Hisbollah unter anderem von der USA als Terrororganisation eingestuft wird, gehört die Partei im Libanon als größter Repräsentant der Schiiten zur traditionellen Parteienlandschaft des Landes. Bei der letzten Parlamentswahl erlangte der Parteienblock um die Hisbollah und ihre Verbündeten die meisten Sitze in der libanesischen Volksvertretung und besitzt so erheblichen Einfluss.

Vor fünf Jahren erreichten die Straßenkämpfe ihren blutigen Höhepunkt

Zwar befinden sich die meisten Hisbollah-Hochburgen im Süden, doch fühlten sich viele sunnitische Muslime durch den wachsenden schiitischen Einfluss im Land marginalisiert. Infolgedessen litt Tripoli unter Straßenkämpfen zwischen Alawiten und Sunniten, die ihren blutigen Höhepunkt in einer Reihe von Anschlägen fanden. So kamen vor fünf Jahren 47 Menschen bei einem Anschlag auf eine sunnitische Moschee in Tripoli ums Leben, 2015 starben 44 Menschen bei zwei Selbstmordattentaten in einem überwiegend von Schiiten bewohnten Vorort Beiruts.

Tripoli wurde  zum Spielball der Großmächte. Auf der einen Seite der Iran, der die schiitische Hisbollah und den alawitischen Assad unterstützt, auf der anderen Seite vor allem Saudi-Arabien als größter Unterstützer der Sunniten.  

Ein Schuhputzer in einer der breiten Straßen der Stadt.

© Julius Geiler

Am Abend des 17. Oktobers gehen die Libanesen und Libanesinnen das erste Mal auf die Straße. Ein paar Stunden vorher hat die Regierung beschlossen, eine Steuer von sechs US-Dollar im Monat auf Messengerdienste wie WhatsApp und Skype zu erheben. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Noch in der Nacht breiten sich die Proteste gegen die Steuer auf das ganze Land aus. Auch in Tripoli strömen die Menschen ins Zentrum, um sich der Protestwelle  anzuschließen. Am Folgetag bemüht sich Premierminister Saad Hariri um Schadenbegrenzung und nimmt die geplante Steuer zurück. Doch es geht um viel mehr. 

Wassef J. ist einer der Sprecher der Bewegung

© Julius Geiler

Wassef ist 45 Jahre alt und steht auf der selben Plattform, auf dem DJ Madi K einige Tage vorher seinen Auftritt hatte. Er ist einer der Sprecher des Protests in Tripoli, auch wenn er darauf beharrt, dass dies keine offizielle Bezeichnung ist. Sowieso scheint hier alles sehr improvisiert. Es gibt keine Anführer, keiner beansprucht die Organisation für sich. Nicht nur in Tripoli ist das so, sagt Wassef. „Das ist das besondere an unserer Revolution. Sie geht vom Volk aus. Niemand steuert uns, wir sind alle ganz normale Libanesen, die gegen die politische Untätigkeit der letzten Jahrzehnte auf die Straße gehen.“

Es geht um die weit verbreitete Korruption, die verfestigten Machtstrukturen der politischen Elite und letztlich auch gegen das im Libanon einzigartige System der Postenverteilung nach politischem Proporz, das in den vergangenen Jahren zu mehr Stillstand, als Fortschritt geführt hat, so Wassef. 

Hariri kündigte wegen der Proteste seinen Rücktritt an

Den ersten großen Erfolg konnte die Massenbewegung etwa zwei Wochen nach Beginn der Proteste verbuchen. Premierminister Hariri kündigte seinen Rücktritt an. Mit ihm zerbricht die gesamte Regierung. Seitdem ist der 84-jährige Präsident Michel Aoun mit der Bildung eines Übergangskabinetts beschäftigt. Bisher ohne Erfolg.

Während der Rest des Libanon sich nach Hariris Rücktritt eine „Protest-Pause“ gönnt und viele Libanesen und Libanesinnen begannen, wieder zur Arbeit zu gehen, macht Tripoli einfach da weiter, wo es angefangen hat: Auf dem Al-Nour-Platz, mit tausenden wütenden Menschen, Nacht für Nacht. Wurde noch kurz vorher der libanesische Norden von den Beirutern verteufelt, blickt man jetzt ehrfürchtig nach Tripoli. Und ist vom Durchsetzungsvermögens und der Ausdauer beeindruckt.

Nur wenige Touristen kommen in die Stadt

Mira Minkara versucht schon seit Jahren, Tripoli in einem anderen Licht erstrahlen zu lassen. Sie führt die wenigen Touristen, die sich für eine Tagestour von Beirut in den Norden des Landes verirren durch  ihre Heimatstadt. Seit dem Beginn der Revolution ist sie fast jeden Tag bei den Protesten. In letzter Zeit nicht direkt auf dem Al-Nour-Platz, sondern in einer nahen Seitenstraße.

Hier stehen mehrere Zelte, Teppiche sind auf dem Boden ausgebreitet. In der Mitte steht ein Mikrofon, jeder darf hier sagen was er oder sie denkt. Am offenen Mikrofon wird über die Zukunft des Landes debattiert, über die nächsten Schritte und Forderungen der Protestbewegung. Hunderte hören zu und diskutieren mit. Frauen und Männer sprechen immer abwechselnd.

Niemand leidet so wie die Menschen in Tripoli

Warum ist gerade Tripoli zum Herzen der Revolution geworden? „Der Hauptgrund ist die ökonomische Situation. Niemand leidet im Libanon so stark unter unserer Regierung, wie wir in Tripoli. Die Menschen haben hier nichts mehr zu verlieren, sie sind noch wütender als anderswo. Wir haben Jahre lang ein Schattendasein gepflegt. Die Menschen sterben hier, weil ihnen das Geld für Medikamente oder Ärzte fehlt.“

Mira freut sich darüber, dass die Stadt endlich in einem positiven Licht erstrahlt, gleichzeitig sieht sie den momentanen Hype auch mit Skepsis. „Tripoli ist nicht nur der DJ. Ich habe jahrelang versucht, der Welt zu zeigen, dass Tripoli nicht so ist, wie viele denken. Tripoli war schon immer cool, nicht erst seit der Revolution. Vieles war vorher schon so, es hat nur niemanden interessiert. “

Die Seifenpresse ist von "August Krull, Helmstedt"

Tatsächlich hält die Stadt Überraschungen bereit. Walid ist 21 Jahre alt, Student und arbeitet nebenbei für Mira als Stadtführer. Er geleitet Touristen durch die weit verzweigte Altstadt Tripolis, eine der ältesten des gesamten Nahen Ostens. Ein alter Mann zeigt uns seine Seifenfabrik, stolz demonstriert er eine jahrhundertalte Maschine, die er immer noch zur Herstellung der Seife nutzt. „Made in Germany“, sagt er und tatsächlich findet sich die Inschrift „August Krull, Helmstedt“, auf der Seifenpresse.

Das eigentliche Highlight Tripolis, ist aber das Messegelände, sagt Walid. Der brasilianische Stararchitekt Oscar Niemeyer errichtete hier auf einem riesigen Gelände am Rande des östlichen Mittelmeers ein 15 halbfertige Bauten umfassendes Ausstellungsareal. Konzipiert hatte Niemeyer das Areal für die internationale Weltausstellung. Dazu kam es nie, 1975 brach der libanesische Bürgerkrieg aus und seitdem ruht das Gelände im Dornröschenschlaf. Lange war in Tripoli nur die ruhmreiche Vergangenheit präsent, jetzt ist es zum ersten Mal die Gegenwart, sagt Walid.  

In der Altstadt bieten Händler ihre Waren an.

© Julius Geiler

Wir sind zurück am Al-Nour-Platz. Der 30-jährige Nibal al Jamal kennt den DJ Madi K schon seit Ewigkeiten, Nibals Bruder und Madi sind beste Freunde. „Madi hat sich Tripoli unglaublich verdient gemacht. Er hat dazu beigetragen, dass wir aus der Bedeutungslosigkeit wiederaufgetaucht sind.“ Was für Nibal aber noch viel wichtiger ist: Was die einzelnen Menschen durch ihr Durchhaltevermögen erreicht haben.

„Wir in Tripoli haben Mauern eingerissen. Es gibt keine Sunniten, Schiiten, Christen oder Drusen mehr, es gibt nur noch Libanesen. Plötzlich schreien die Menschen im Süden des Landes, in den schiitischen Hochburgen, zu Tausenden  den Namen „Tripoli“, um Solidarität  auszudrücken. Und wir machen es ihnen gleich“, sagt der 30-Jährige. „Die Grabenkämpfe zwischen den verschiedenen Konfessionen in Tripoli waren auch immer so von den Politikern gewünscht.“ So lange wir uns gegenseitig bekämpft haben, „hatten die da oben ihre Ruhe“, meint Nibal. „Aber wir haben da einfach keine Lust mehr drauf. Wir alle wollen Veränderung, also kämpfen wir zusammen dafür, dass diese Revolution ein gutes Ende nimmt.“  Natürlich nicht nur in Tripoli, fügt er hinzu: „auch für unsere Brüder und Schwestern im Süden, in Beirut und in den Bergen“. 

"Kellon yaane kellon" bedeutet "Alle heißt Alle"

Er selbst will die Straße erst wieder verlassen, wenn die gesamte politische Elite zurückgetreten ist. „Kellon yaane kellon“ ist einer der gängigsten Sprechchöre in Tripoli und  bedeutet in etwa „Alle heißt Alle“. Nibal ist der Meinung, dass Tripoli den Rest des Landes erst daran erinnern musste, dass mit dem Rücktritt des Premierministers Hariri, noch lange nicht alle Forderungen der Protestler erfüllt sind. Da Hariri Sunnit ist, genießt er in Tripoli größere Akzeptanz als anderswo.

An dieser Stelle kommt dann doch nochmal das libanesische Sektierertum zum Vorschein. Das politische System des Landes schreibt es vor, dass die wichtigsten Posten streng nach Konfession aufgeteilt werden. So ist der Regierungschef ein Sunnit, der Präsident ein Christ und der Parlamentsvorsitzender ein Schiit.  Für Nibal war von Anfang an klar, dass alle drei großen Repräsentanten ihren Posten räumen müssen. Unter anderem deswegen hätten sich die, zumeist sunnitischen Tripolitaner, nicht mit Hariris Rücktritt zufriedengegeben.  „Durch unsere Energie haben wir auch den Rest des Landes wieder auf die Straße geholt, vielen ist erst durch uns bewusst geworden, dass Hariris Rücktritt nur einer von vielen Schritten ist.“ 

Scherben vor einer Bank. In der Nacht zu Mittwoch kam es auch in Tripoli zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.

© Omar Ibrahim/Reuters

Mehr als einem Monat nach Beginn der Massenproteste wird allerdings klar, dass sich in Tripoli noch längst nicht alles zum Guten verändert hat: Am Dienstagabend prallen Demonstranten und  Sicherheitskräfte aufeinander. Die Armee setzt Tränengas und Gummigeschosse ein, um die Steine werfenden Protestierenden auseinanderzutreiben. Es gibt dutzende Verletzte.

Die Hintergründe der plötzlichen Gewalteskalation sind noch nicht aufgeklärt, da kommen die Menschen am Mittwoch bei Einbruch der Dunkelheit wieder zusammen. Einige haben ihre Kinder mitgebracht, viele tragen Kerzen bei sich. Es scheint, als würden die Tripolitaner alles dafür geben, dass ihr neu gewonnenes Image bestehen bleibt.

Julius Geiler

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