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Ab Dienstag nur noch geschäftsführend im Amt: Kanzlerin Angela Merkel.

© Alexey Vitvitsky/imago images/SNA

Lehren aus der Ära der Kanzlerin: Die „Kompromissmaschine“ sagt adieu – und jetzt?

Angela Merkel zieht Bilanz und kritisiert vergiftete Diskurse. Die Ampel könnte hier ein Zeichen setzen; es braucht ein großes Bürgergespräch. Ein Kommentar.

Wenn Kanzlerin Angela Merkel ab Dienstag nur noch geschäftsführend im Amt ist, neigt sich eine Ära dem Ende zu. Den Rekord von Helmut Kohl wird sie um wenige Tage verpassen, wenn Olaf Scholz in der Nikolauswoche zu ihrem Nachfolger gewählt werden sollte. Die Bilanz mag zwiespältig sein, vieles wurde angepackt, aber nicht mit der nötigen Konsequenz weitergeführt, wenn andere Krisen dazwischen kamen.

Vom Klimaschutz und der Energiewende über Digitalisierung, Staatsmodernisierung bis zum Bürokratieabbau. Merkel selbst sieht das beharrliche Ringen um die Einheit Europas, die Rettung des Euro, als ein großes Reformprojekt, das mit ihr verbunden bleibe. Es geht nun auch um die Bewertung in den Geschichtsbüchern. Den Atomausstieg jetzt wieder in Frage zu stellen, hält sie für wohlfeil, damals seien auch Union und FDP vom Fukushima-Schock erfasst worden. Merkel steht für das Christliche im Namen der CDU, wenn sie nicht von Flüchtlingskrise spricht, sondern stets von Flüchtlingspolitik. Weil ein Flüchtling für sie keine Krise, sondern erst einmal ein Mensch ist.

Wenn es jetzt um Lehren ihrer Amtsführung geht, sollte bei Merkel eines besonders herausgestrichen werden: die Kunst und der tiefe Glaube an den Kompromiss als ihr unbestreitbares Vermächtnis in einer polarisierten, rechthaberischen, zunehmend kompromisslosen Zeit. Wenngleich anzumerken ist: Nichts ist alternativlos. Streit und Debatte ist unerlässlich - aber auch das Akzeptieren von Kompromissen.

Luxemburgs Premier Xavier Bettel hat Merkel bei ihrem wohl letzten EU-Gipfel als eine europäische „Kompromissmaschine“ gewürdigt. Sie glaubte auch unbeirrt an den Multilateralismus, als Donald Trump ihn mit Füßen trat. In einem bemerkenswerten Bilanz-Interview in der Süddeutschen Zeitung nannte die Kanzlerin nun die Veränderung der Kommunikation eine der größten Herausforderungen für die Politik in einer westlichen Demokratie.

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Merkel sei eine "Kompromissmaschine", sagt Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel.
Merkel sei eine "Kompromissmaschine", sagt Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel.

© Michael Sohn/dpa

Als Merkel startete, gab es kein Twitter und Instagram

Als Merkel ihr Amt antrat, war Facebook ein Jahr alt, Twitter und Instagram gab es noch gar nicht. Sie fürchte, dass die Kompromissbildung, die in der Demokratie unerlässlich ist, zunehmend problematisch werde, sagt sie. Wie erreicht man die Menschen, schafft wieder Diskurse, in denen unterschiedliche Meinungen respektiert werden, statt sich in Blasen zurückzuziehen, wo jeder sich seine Meinung nur bestätigen lässt?

Gerade in den letzten fünf Jahren ihrer Amtszeit wurde Merkel stark angefeindet, musste Bilder von sich am Galgen ertragen. Die Corona-Zeit hat die Polarisierung in der Politik verstärkt. Auch beim Klimathema wird es spürbar rauer. Es ist bedenklich, wenn Aktivisten von Fridays for Future im Netz Bilder ihrer Protestaktion vor der SPD-Parteizentrale mit dem historisch belasteten Spruch „Wer hat uns verraten…?“ tausendfach verbreiten.

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Die möglichen Ampel-Koalitionäre: Fähigkeit zum Kompromiss?
Die möglichen Ampel-Koalitionäre: Fähigkeit zum Kompromiss?

© imago images/Mike Schmidt

Die Ampel könnte der politischen Kultur gut tun

Es geht hier nicht um Verrat am Klimaschutz, sondern SPD, Grüne und FDP mühen sich um Lösungen, die das ganze Land mitnehmen – und den von höheren CO2-Preisen besonders betroffenen Bürgern einen finanziellen Ausgleich garantieren. Gerade eine Ampel-Koalition könnte hier zum Vorbild für den Diskus werden: Wenn es drei Parteien mit sehr unterschiedlichen Traditionen und politischen Ausrichtungen schaffen, Vertrauen aufzubauen und Kompromisse zu schmieden, die jedem Partner auch Erfolge und das Herausstreichen des Markenkerns ermöglichen, ist das ein großer Dienst an der politischen Kultur im Land.

Olaf Scholz mit seiner in Beharrlichkeit und Zähigkeit Merkel nicht unähnlichen Art kann Garant dafür sein, ebenso ein Robert Habeck und eine Annalena Baerbock, auch FDP-Chef Christian Lindner versucht sich in dieser Rolle.

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Die Union wird von Illoyalitäten und Richtungskämpfen erschüttert

Ausgerechnet Merkels Parteienfamilie, die Union, kommt dagegen mit Illoyalitäten und Flügelkämpfen von dem von ihr geprägten Kurs ab. Der Wahlerfolg der Ampel-Parteien hat gezeigt, dass Merkels Modernisierungskurs der Mitte der einzig erfolgversprechende Weg für die Union war. Neugründungen wie "The Republic" könnten dagegen die Polarisierung schüren, im Ringen um eine konservative Wende in der Union.

Eine Ampel-Koalition müsste in diesem Klima weit mehr als Merkel das dauerhafte große Bürgergespräch suchen; mit Vertretern aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft die gewaltigen Herausforderungen besprechen.

Ein paar Bürgerdialoge vor dem nächsten Wahltermin reichen nicht mehr. Demokratie ist anstrengender geworden. Der Chef des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, hat gerade in einem Beitrag an die sogenannte konzertierte Aktion, den „Tisch der gesellschaftlichen Vernunft“ von Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD). So etwas bräuchte es heute wieder, um gerade die Klimakrise ökonomisch und gesellschaftlich so zu steuern, damit das Land hier einen Aufbruch ohne neue Brüche schafft. Dazu braucht es kluge Kompromisse, statt Beharren auf Maximallösungen und Grabenkämpfen. Das ist letztlich auch Merkels Botschaft vor Verlassen des Kanzleramts.

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