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Politik: Die Leichtigkeit des Seins

Von Peter von Becker

Heitere Spiele! Nach allem „Du bist Deutschland“-Trara und allem Fifapeinerlei gibt es plötzlich so vielfältig bunte, beschwingte Gesichter in unseren Städten, dass es selbst die notorischsten Griesgrämerseelen erfasst. Und zuerst sind es ja gar nicht die überall wehenden nationalen Symbole, sondern eben diese farben- und fußballfrohen Gesichter, auf die es ankommt. Man könnte sagen: Die Fans machen die Fahne und die Stimmung, nicht umgekehrt.

Da ziehen Sonntagabend auf der Berliner WM-Meile die schönen iranischen Mädchen, ohne Kopftücher, mit ihren Emblemen neben den Trommlern mit der mexikanischen Trikolore Richtung Brandenburger Tor. So etwas kann alle Ideologen nur beschämen. Und lässt unsere Herzen lachen. Überhaupt wird bei dieser Weltmeisterschaft in Deutschland nicht nur mit Bier geölt und voll Ernst gegrölt, im Gegenteil. Das von Selbstzweifeln oder Überheblichkeit, von Schwermut oder Hochmut oft mitgenommene Land wirkt seit der bayerisch-globalen, dabei nicht unironischen Eröffnungsfeier und dem endlich erlösenden Anpfiff in München: schwebend und swingend, bezaubert und bezaubernd. Auch das Ausland staunt, Italiens Presse spricht von einer „festa tedesca“.

Daran hat auch das Wetter seinen Anteil, gewiss. Aber wir müssen nicht immer alles aufs Wetter schieben. Die bisher so heiteren Spiele sind im Übrigen nichts völlig Neues in Deutschland. Es gab sie schon einmal, 1972 in München. Bis zu jenem 5. September, als ein palästinensisches Terrorkommando die israelische Olympiamannschaft überfiel. Das erklärt, zumal nach dem blutigen September in jüngster Vergangenheit, manche Aufregung der Sicherheitsbehörden, die in ruhigen Zeiten wie Hysterie erscheint. „München 1972“ verbindet für ein Weltsportfest in Deutschland zwar Traum und Trauma – aber es ist kein Menetekel, keine Vorhersage des Unheils. Also darf auch der Wachsame weiter heiter träumen, wie jetzt.

Viele zeigen Fahne. Ihre Fahne. Doch daraus gleich eine neue, selbstberauschte Patrioten-Welle abzuschöpfen („Bild“: Wir „alle sind rot-schwarz-geil“), hat wieder etwas leicht Zwanghaftes. Natürlich fiebern Fußballfans bei einer WM für ihre Nationalmannschaft. Das Spiel an sich ist kein Fall von Völkerverständigung; es ist Wettkampf, bei dem nicht unbedingt der Bessere, sondern vor allem die eigene Mannschaft gewinnen soll. Anders hätte das keine Spannung und keine Stimmung. Wer alle Spiele und die sie begleitenden Rituale nur mit weltgerechtem, leidenschaftslos universellem Wohlgefallen betrachtet, verwechselt Fußball (und Sport) mit soziokulturellem Ringelpiez.

Zur eigenen Identität bedarf es der Identifikation mit dem eigenen Team. Kein Wunder darum, dass im großen Fan-Fahnenmeer die sonst allgegenwärtige EU-Flagge fehlt. Man kann auch im einigen Europa von keinem Fußballpassionierten erwarten, dass er sich mit dem Symbol einer ideal-abstrakten Dachorganisation dekoriert. Das freilich schließt den Sinn für andere Reize nicht aus. So haben sich auf deutschen Straßen und Plätzen Sonnengelb und Sterne auf grünem Grund erstaunlich vermehrt. Nun sind die Brasilianer zwar da, aber viele ihrer Bewunderer sind offenbar Deutsche. Die zeigen, die tragen jetzt brasilianisches Tuch, selbst wenn ihr Herz darunter für Lahm und Ballack schlägt. Es drückt sich darin wohl die alte, gar nicht zu bespöttelnde deutsche Sehnsucht nach Weltoffenheit und Weltläufigkeit aus. Auch: nach Weltmeisterschaftlichkeit. Dennoch werden sie, wenn Deutschland wirklich auf Brasilien treffen sollte, schnell wieder in die eigene Farben- und Fanhaut schlüpfen.

Das hat spielerischen Stil und passt zu dieser augenblicklich so wunderbar erträglichen Leichtigkeit des Seins. Vor der Revolution von 1848 entstanden übrigens nicht nur unsere Nationalfarben Schwarzrotgold. Es erklang auch das sommerliche Volkslied „Kein schöner Land in dieser Zeit“. Sein Dichter hieß Anton Wilhelm von Zuccalmaglio. Der Name passt doch: zur festa tedesca, zur Fiesta, wo wir uns finden, wohl unter Linden. Wenn nicht schon im Stadion oder vorm Schirm.

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