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Politik: Die milden Kerle

Von Harald Martenstein

Von Harald Martenstein

Lange hat sich die Forschung mit der Frage befasst, warum Frauen länger leben, obwohl Männer länger zeugungsfähig sind. Die wahrscheinlichste Antwort lautet: Nur Großmütter hatten bei unseren Ahnen einen biologischen Sinn. Eine Großmutter, die sich sorgt, erhöht die Überlebenschancen des Nachwuchses. Ein Großvater nicht. Was weiß der alte Mann schon von Kindern? Von Natur aus werden die Männer später erwachsen, und wenn ihre Kraft nachlässt, sterben sie. Sie sollten Nachwuchs zeugen und, mit Hilfe ihrer Aggressivität, für Nahrung sorgen. Sie sollten beschützen und Feinde abwehren. Wenn sie das nicht mehr konnten, hatte sich ihr biologisches Schicksal erfüllt. Männer brennen kurz und heftig.

Wir Menschen wollen uns, so weit es möglich ist, von der Natur und unserer Vergangenheit emanzipieren. Wir wollen frei sein und unsere Rollen selbst definieren. Man hat sich daran gewöhnt, den Weg zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen wie einen Machtkampf zu beschreiben, wie die Auseinandersetzung zwischen Unterdrückern und Unterdrückten. Aber so einfach ist es nicht. Viele der heute so lästigen Eigenschaften, die Männer zu Männern machen, waren Millionen von Jahren für die Frauen nützlich. Der moderne Mann soll stark sein und sensibel, erfolgreich und kinderlieb, warmherzig und entschlossen, unaggressiv und tatkräftig, morgens ein netter Kumpel und abends ein leidenschaftlicher Liebhaber. Am besten soll der Mann beides gleichzeitig sein, alt und neu. Die wenigsten Männer schaffen das.

Jungen sind häufiger krank als Mädchen, vier Mal so viele Jungen stottern. In der Grundschule und im Kindergarten trifft ein Junge fast nur auf weibliches Erziehungspersonal. Nie in der Geschichte hat sich eine Vätergeneration in Deutschland so intensiv um ihren Nachwuchs gekümmert wie die gegenwärtige, trotzdem ist in vielen Familien von heute der Vater abwesend, denn Familien sind zerbrechlich wie Glas. Es ist schwierig, zu lernen, ein moderner Mann zu sein, und es gibt noch kaum jemanden, der es einem beibringt. In der Schule bilden fast immer Mädchen die Leistungsspitze, mehr Mädchen als Jungen machen Abitur. Männer begehen vier Mal häufiger Selbstmord als Frauen. Männer reden deutlich weniger, wie verschiedene Studien bewiesen haben, und sind im Durchschnitt sprachlich nicht so gewandt. Von einer Führungsperson wird heute verlangt, dass sie eher ein Moderator ist als ein Führer. Schon bald könnten mehr Länder, in denen Männer und Frauen ähnliche Karrierevoraussetzungen haben, von Frauen regiert werden – Deutschland, die USA, Frankreich, Israel.

Macht gibt es allerdings nicht nur in Firmen oder in der Politik. Wer alte, langjährige Paare betrachtet, stellt fest, dass sich im Inneren der Familie fast immer die Frau als die Stärkere herausstellt. Nun wird die öffentliche Position der Männer allmählich schwächer – dass ihre Position in der Familie dafür stärker wird, ist nicht zu erkennen.

In den Fußgängerzonen sieht man die jungen Männer, die sich am schwersten tun mit dem, was von ihnen verlangt wird. Sie kommen aus Migrantenfamilien, sind noch ganz traditionell erzogen, arbeits- und sprachlos, oft aggressiv, ohne Chance in einer Welt, die für harte Männer keine Verwendung mehr hat. Was ihnen bleibt, ist ihr Testosteron.

Die meisten von uns sind gutwillig. Zwar besetzen wir immer noch die meisten Chefpositionen, das stimmt, aber mit sinkender Tendenz und wachsendem schlechtem Gewissen. In der Politikpolitik war es so, dass irgendwann alle Parteien mehr oder weniger sozialdemokratisch dachten. In der Geschlechterpolitik denken heute fast alle mehr oder weniger feministisch. Wir wehren uns nur schwach. Selten in der Geschichte war eine Gruppe bereit, ihre Macht mit so wenig Widerstand abzugeben wie der westliche, moderne Mann. Jetzt steckt er in einer Identitätskrise. Eigentlich hätte er ein paar freundliche Worte verdient.

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