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Politik: Die unvollendete Revolution

In Moskau stellten sich Bürger im August 1991 den Panzern in den Weg      - der Putsch einiger Altkommunisten gegen die Perestroika scheiterte

Jetzt ist Schluss mit lustig, dachte Wirtschaftsprofessor Jewgeni Jassin am Morgen des 19. August 1991: Wir haben verloren, sie gesiegt. Sie – das war eine Gruppe von Altstalinisten um Vizepräsident Gennadi Janajew, die sich in der Nacht zuvor an die Macht geputscht hatten, um Perestroika und Glasnost rückgängig zu machen. Also Umbau und Transparenz, mit denen der Präsident Michail Gorbatschow die Sowjetunion reformieren und retten wollte – durch einen neuen Unionsvertrag, der aus der Föderation eine Konföderation machen und die Rechte der Republiken erheblich erweitern sollte. Am 19. August, einem Montag, sollte die Bevölkerung über den Entwurf abstimmen. Um ihn sollte es am Sonntag auch in einer Late-Night-Talkshow des Staatsfernsehens gehen.

Die Bürger warteten vergeblich. Die Putschisten hatten das Ballett „Schwanensee“ auf den Talk-Sendeplatz gehievt und Panzerverbände nach Moskau beordert. Erst als deren Ketten am frühen Morgen in den Straßen der Hauptstadt rasselten, erfuhren die Sowjetbürger und der Rest der Welt durch eine Erklärung Janajews von Putsch und Ausnahmezustand.

Was die Verschwörer nicht bedacht hatten: Es gab bereits unabhängige Radiosender wie „Echo Moskwy“, und die riefen ihr Publikum auf, um das Moskauer Weiße Haus – Parlamentsgebäude und Amtssitz von Boris Jelzin, der im Juni 1990 zum Präsidenten Russlands gewählt worden war – einen Ring zu bilden. Zehntausende, darunter Wirtschaftsprofessor Jassin, hörten, kamen und siegten. Auch weil die Soldaten den Putschisten den Gehorsam verweigerten. „Werdet nicht zur blinden Waffe des verbrecherischen Willens von Abenteurern!“, hatte Jelzin ihnen mit dem Megafon in der Hand auf einem Panzer stehend zugerufen.

Die Bilder gingen um die Welt. Vor allem halfen sie dabei, dass die Konterrevolution auf dem Land gar nicht erst Tritt fassen konnte. Die Provinzfürsten warteten ab, wer sich in Moskau durchsetzen würde: Reformer oder Gegenreformer. Letzteren ging schon am 21. August, als die Armeeführung sich hinter die Demonstranten stellte, die Luft aus. Gorbatschow, den Janajew und Kumpane mitsamt Familie in seiner Sommerresidenz auf der Krim unter Hausarrest gestellt hatten, kehrte nach Moskau zurück. Fortan war er aber ein König ohne Land und musste Ende Dezember auch Kremlschlüssel und Atomkoffer an Jelzin übergeben.

Bürgerrechtler und die liberale Opposition bezeichnen die Ereignisse von 1991 gern als unvollendete Revolution. Und bleiben leider auch bei der Ursachenforschung dafür auf halbem Wege stehen. Sie dichteten Jelzin, zu dem sie lange fest in Treue standen, ein Demokratiepotenzial an, das dieser nie besaß. Denn Gorbatschow wie Jelzin waren den Denkmustern des totalitären Systems, das sie an die Spitze getragen hatte, mehr verhaftet als beide je wahrhaben wollten.

Zwar drängte Jelzin, anders als Gorbatschow, der nur den Systemwandel anstrebte, auf Systemwechsel. Mit der Erkenntnis, dass Sowjetmacht und Kommunismus nicht reformierbar sind, hat das jedoch nur mittelbar zu tun. Unmittelbar dagegen mit dem Bedürfnis nach Revanche für all die Kränkungen – wirkliche und imaginäre –, die Gorbatschow Jelzin zugefügt hatte. Denn beide waren Alphatiere und unfähig zur Gewaltenteilung.

An Jelzins Machtinstinkt zerbrach nur zwei Jahre nach dessen Triumph über die Altstalinisten auch die Freundschaft mit seinen engsten Kampfgefährten der Augusttage: Afghanistan-Held und Vizepräsident Alexander Ruzkoi und Parlamentschef Ruslan Chasbulatow. Dass Jelzin den frei gewählten Obersten Sowjet im Oktober 1993 mit Panzern und schwerer Artillerie auflöste, rechtfertigten westliche Beobachter als Präventivschlag gegen eine neue Konterrevolution der Ewiggestrigen. In Wahrheit war es eine gewaltsame Lösung für einen Richtungsstreit: Chasbulatow wollte eine soziale Marktwirtschaft, Jelzin deren Reinkultur. Mit der Eigendynamik, die die von ihm in Gang gesetzten Prozesse entwickelten, war er jedoch hoffnungslos überfordert.

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