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Politik: Die Wut treibt Ukrainer auf die Straße Brutales Vorgehen der Sicherheitskräfte

Warschau - „Revolution! Revolution!

Warschau - „Revolution! Revolution!“ hallt es durch die Straßen des Stadtzentrums von Kiew. „Die Ukraine ist noch nicht Weißrussland“, ruft Jurij Lutsenko in die Menge. Er war einst Innenminister unter der jetzt inhaftierten Oppositionsführerin Julia Timoschenko, kam selbst ins Gefängnis und erst im vorigen April wieder frei. „Die Verbrecherbande muss weg!“, schallt ihm aus Tausenden von Kehlen zurück. Die Demonstranten schwenken Europa- und Ukraineflaggen, manche haben ihre Kinder mit auf die Straße genommen. Auch viele Rentner sind in dem Protestzug dabei.

Die Demonstrationen am Sonntag waren die bisher größten in der Ukraine seit der „orangen Revolution“ von 2004. Hunderttausende aufgebrachter Bürger zogen trotz Demonstrationsverbots vom Schewtschenko-Park gegenüber dem Parlament über die Nobelmeile Chreschtschatik zum symbolischen Majdan, dem zentralen „Platz der Unabhängigkeit“. Sie folgten einem Aufruf Timoschenkos. „Vereinigt euch und stellt die Gerechtigkeit in eurem Staat wieder her“, hatte sie am Samstag aus ihrer Gefängniszelle geschrieben. „Nehmt die Macht in eure Hände.“ Noch am Abend ging die wütende Menge dazu über, den Ministerrat und weitere Regierungsgebäude mit Menschenketten zu blockieren. Provokateure fuhren mit Bulldozern beim Präsidentenpalast auf und drohten, diesen anzugreifen.

Der symbolträchtige Majdan war erst am Samstagmorgen nach zehn Protesttagen geräumt worden. Die gefürchteten „Berkut“-Einheiten drängten ein paar hundert vor allem jugendliche Demonstranten mit Schlagstöcken vom Platz. Bei der wilden Prügelorgie gegen die friedlichen und wehrlosen Demonstranten wurden etwa 40 Personen verletzt. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte trieb am Sonntag Ukrainer aus Kiew und vielen anderen Städten auf die Straße, die bisher resigniert zu Hause geblieben waren. In dem Land, das seit dem Wahlsieg von Wiktor Janukowitsch über Timoschenko Anfang 2010 zusehends autoritär regiert wird, haben die Bürger immer weniger Einfluss. Stattdessen drohen Gerichte mit Haftstrafen wegen angeblicher Veruntreuung und ähnlichen Verbrechen, die alle Kritiker Janukowitschs treffen. Die Räumung des Majdan brachte nun das Fass zum Überlaufen.

„Unser Ziel ist der vollständige Regierungswechsel in der Ukraine“, forderte Boxweltmeister Witali Klitschko auf dem am Sonntagmittag erneut besetzten Majdan. Schon Mitte der Woche hatten die drei Oppositionsparteien Neuwahlen und ein Impeachmentverfahren gegen den Staatspräsidenten gefordert für den Fall, dass Janukowitsch in Vilnius den EU-Assoziierungsvertrag nicht unterzeichne. Janukowitsch klagte in Vilnius nur über die zu geringen Finanzspritzen der EU, unterschrieb nichts und ließ es beim vagen Versprechen einer möglichen EU-Assoziation bewenden. „Heute ist die ganze Ukraine gegen die Regierung aufgestanden, und wir werden weiter stehen“, drohte Klitschko. Paul Flückiger

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