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Wie umgehen mit den Veränderungen? Revolution!, forderten 2011 Occupy-Anhänger in Berlin.

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Digitalisierung, Globalisierung & Co.: Wenn aus Veränderung Krise wird

Gesellschaftsordnungen gehen kaputt, wenn die Bevölkerung Wandel nur noch als Krise begreift. Über Globalisierung, Digitalisierung & Co als psychologische Herausforderungen. Ein Essay.

Der Anthropologe Joseph Tainter hat als Ursache für den Zusammenbruch einer gesellschaftlichen Ordnung eine individuelle und gesellschaftliche Überforderung herausgearbeitet. Im Kern ist das Argument ein psychologisches: Es ist der einzelne Mensch, der innerhalb seines Lebens mit den Veränderungsprozessen nicht Schritt hält; seine emotionale und narrative Anpassungsfähigkeit kommt an eine Grenze.

Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für eine Gesellschaft ist die institutionelle und kulturelle Beherrschbarkeit von Komplexität. Ökonomisch und kulturell expandierende Gesellschaften stehen daher vor der ständigen Herausforderung, die institutionellen Regeln und kulturellen Normen weiterzuentwickeln und so ihre komplexer werdende Wirklichkeit durch Narrationen und eine symbolische Ordnung verständlich zu machen. Schocks wie Umweltschädigungen oder Energieengpässe können zwar Stress auf eine Gesellschaft ausüben, sind aber nicht die letztlichen Ursachen für Krise. Hierzu kommt es erst, wenn die Gesellschaft nicht mehr mit der einhergehenden Komplexität umgehen kann. Und je heterogener Menschen sich wahrnehmen, desto schwieriger wird die kulturelle Verklammerung.

Ist dies einer der Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen politischen Situation zumindest westlicher Demokratien? Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel, Migration und Diversität von Lebensmodellen verunsichern und erzwingen Anpassungen im Denken und Handeln. Die verinnerlichten Gewohnheiten verlieren so schnell an Gültigkeit, so dass sich immer mehr Menschen von ihrer gesellschaftlichen Existenz entfremden können. Ökonomische Faktoren wie wachsende Ungleichheit oder Unsicherheit mögen eine zentrale Rolle spielen, doch es bedarf mehr zur Krise.

Es reicht nicht, den Veränderungsdruck zum Normalfall zu erklären

Mit zunehmender Entfremdung entsteht eine solche Krise als Zusammenbruch der alten Ordnung. Der Ethnologe Victor Turner hat beschrieben, wie sich Krisensituationen auf gesellschaftlicher Ebene vollziehen, und er hat für den Übergangszeitraum von einer alten zur neuen Ordnung den Begriff der Liminalität geprägt. In diesem Zeitraum brechen gesellschaftliche Deutungsmuster angesichts einer als nicht mehr beherrschbar erscheinenden sozialen, technischen und natürlichen Umwelt zusammen. Damit einher geht ein Moment existenziellen Schreckens bei gleichzeitiger Offenheit und Freiheit hinsichtlich der Zukunft. Diese Offenheit macht den Prozess nur im Nachhinein deutbar, jedoch nicht prognostizierbar.

Der Zusammenbruch einer alten Ordnung geht immer mit der Auflösung, der Verflüssigung bestehender Ordnungsvorstellungen einher. Die grundlegenden Regeln des Verhaltens werden dekonstruiert, und es entsteht eine tiefe Skepsis gegenüber existierenden Regeln und Autoritäten. Auch mit Mitteln des Obszönen oder des subversiven Humors werden Hierarchien zersetzt, und es wird eine Angleichung erreicht, die den alten Eliten ihren Status rauben. Das gezielte Brechen gesellschaftlicher Konventionen und Regeln des Anstands, Debatten um Fake News oder Alternative Facts, die Unterhöhlung der Idee der Expertengesellschaft im Allgemeinen und wissenschaftlicher Autorität im Besonderen sowie die Verbreitung von Konspirationstheorien sind aus dieser Sicht Symptome einer solchen Verflüssigung. Dass diese zeitlich mit der Entstehung neuer Kommunikationsmedien einhergeht, wirkt vereinfachend und hat mit den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen nach der Entwicklung des Buchdrucks und des Radios historische Vorläufer: das Internet als Tauchsieder in einem Prozess der Kulturerwärmung. Es ermöglicht Information und untergräbt gleichzeitig den Glauben sie.

Wer zappelt an wessen Fäden? Globalisierung und Digitalisierung fordern Gesellschaften heraus - also die Menschen.
Wer zappelt an wessen Fäden? Globalisierung und Digitalisierung fordern Gesellschaften heraus - also die Menschen.

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Gesellschaften, die auf technologischen und kulturellen Fortschritt bauen, sind besonders krisenanfällig: Der ständige Anpassungsdruck kann eben nicht allein dadurch neutralisiert werden, dass Veränderung zum neuen Normalzustand deklariert wird. Ein Beispiel hierfür ist das von Jean Améry beschriebene und später empirisch bestätigte Phänomen der kulturellen Alterung: „Wer an die Schwelle gerät, dieser an Jahren früher, jener ein wenig später, muss irgendwann erfahren, dass er die Welt nicht mehr versteht.“ Oder anders herum: „Die Welt, die er versteht, ist nicht mehr.“

In Momenten existenzieller Unsicherheit ist es die Gruppe, die Halt geben kann

Die liminale Periode ist zugleich unstrukturiert und strukturbildend: Mit der Auflösung der alten Ordnung kristallisieren sich bereits mögliche neue heraus. Doch was sind deren Kristallisationskeime? Die Gunst der Stunde existenzieller Unsicherheit befördert einen Wettkampf selbsternannter Leitfiguren, die die Dekonstruktion der alten Ordnung vorantreiben und gleichzeitig der Idee einer neuen Ordnung Gestalt geben. Dabei nutzen sie bewusst oder unbewusst eine anthropologische Konstante aus, die in liminalen Perioden besonders hervortritt: die Suche des Einzelnen nach Gemeinschaft und die Vermeidung von Unsicherheit und „dem Fremden“. In Momenten existenzieller Unsicherheit ist es gerade die Gruppe, die dem Einzelnen Halt geben kann.

Im Ringen um Aufmerksamkeit spielen sich dabei diejenigen Figuren an die Spitze, die das jeweilige mediale Spiel virtuos beherrschen und über hinreichende ökonomische Macht verfügen, sich Gehör zu verschaffen. Die Verkünder der neuen Ordnung lassen so ihre eigenen Interessen Gestalt annehmen. Hier ist das zentrale und gleichzeitig gefährlichste Moment des Kristallisationsprozesses erreicht: Diese Leitfiguren können entweder integrierend oder segregierend wirken; sie können das Gemeinschaftliche betonen oder die Ausgrenzung des „Anderen“.

Gesellschaftliche Ordnungen sind menschengemacht. Sie sind Konventionen, geteilte Illusionen, die anders etwas als Gravitation nicht unabhängig von den Menschen existieren, die sich auf sie geeinigt haben. Im Normalfall ist man sich der Beliebigkeit von Konventionen jedoch nicht bewusst: Im Alltagsbewusstsein sind Konventionen und Gravitation gleichermaßen „wahr“, weil ihre Existenz aus individueller Sicht nicht sinnvoll bestritten werden kann. Es ist geradezu ein Erfolgsgarant, dass Konventionen von der Mehrheit nicht als solche erkannt werden; so können sie ihre stabilisierende Funktion entfalten. In Perioden der Liminalität werden diese aber für einen kurzen Moment im großen Stil sicht- und änderbar, bevor sie wieder im Schattenreich des Selbstverständlichen verschwinden. Hat sich dann eine neue Ordnung erst einmal gebildet, so sieht man keine Möglichkeit des Aufbegehrens mehr gegen diese Konventionen: Eine Auflehnung gegen „den Kapitalismus“, „die Eliten“, das „Geschlechterverhältnis“ oder was auch immer erscheint bis zur nächsten Verflüssigung wieder so unsinnig, wie eine Auflehnung gegen die Gravitation.

- Die Autoren sind Professoren für Volkswirtschaft an der Universität St. Gallen. Der Text erschien zuerst in der Neuen Zürcher Zeitung

Martin Kolmar, Scott Loren

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