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Politik: Doppeltes Trauma

Von Armin Lehmann

Wenn das Dresdner Landgericht heute das Urteil über Mario M. fällt, dem Peiniger der zur Tatzeit 13-jährigen Stephanie, dann kann es nur ein Strafmaß geben: die Höchststrafe von 15 Jahren plus Sicherheitsverwahrung oder 14 Jahre und neun Monate, wie die Staatsanwaltschaft fordert. Alles andere wäre nach Auflistung der Fakten eine Überraschung – und ein Skandal. Die Justiz wird sich das nicht erlauben können, schließlich ist die öffentliche Zurschaustellung des Falles schon Skandal genug. Sie hat, wie unabhängige Experten glaubhaft versichern, zu einer zweiten Traumatisierung des Mädchens geführt.

Das ist insofern ein Skandal, als die Faktenlage eben so klar war. Es gab die Aussagen Stephanies, das Geständnis ihres Entführers, Videoaufnahmen, die die Vergewaltigungen dokumentieren. Selbst der psychologische Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass Mario M. voll straffähig ist. Trotzdem haben alle Beteiligten jeden Spielraum für den möglichen Schutz des Opfers ignoriert. Wochenlang wurde zum Beispiel die Frage öffentlich diskutiert, ob Stephanie vor Gericht aussagen soll.

Immer wieder kommt es zu solchen Verbrechen oder zu traumatischen Erlebnissen, in der Regel werden sie im Sinne des Opfers diskret und seriös und weitestgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit behandelt. Ein Beispiel dafür war der Umgang mit den Angehörigen der entführten deutschen Ingenieure im Irak. Auch hier war das Medieninteresse riesig und berechtigt, trotzdem hat es die Polizei mit Hilfe von Justiz und Psychologen geschafft, die Angehörigen vor zu viel Öffentlichkeit zu schützen. Im Übrigen galt das auch nach der Befreiung für die Entführten selbst.

Stephanies Fall dagegen hat zu jeder Zeit und mit viel zu vielen Details öffentlich statt gefunden. Erst spielten die Anwälte des Opfers einem Nachrichtenmagazin die Geschichte zu, dann wurde das Mädchen mit Erlaubnis der Eltern und der psychologischen Betreuerin in eine Talkshow des ZDF eingeladen.

Es wäre nun recht einfach, die Schuld allein den Medien in die Schuhe zu schieben oder den bösen Anwälten und ihren PR-Strategen. Man muss wohl zur Kenntnis nehmen, dass sich da ein neuer Berufsstand gebildet hat, der gut von der Vermarktung von Opfern lebt. Das gilt für Anwälte ebenso wie für manche selbst ernannten Psychologen. Im Fall Stephanies ist bis heute kein ausgebildeter Kinderpsychotherapeut hinzugezogen worden. Dennoch muss man wohl hinzufügen, dass diese Leute ihre Geschäfte nur deshalb machen können, weil es offensichtlich Abnehmer und eine große Nachfrage für diese Art von Geschichten gibt – und ein schauderhaftes Interesse am bösen Täter.

An dieser Stelle hätte der Staat, die Justiz, vehement versuchen müssen einzugreifen, um Stephanie und ihre Familie zu schützen. Natürlich entscheidet letztlich die Familie selbst, was sie tut – in diesem Fall hat der Vater entschieden. Aber hätte sie ahnen können, was auf sie zukommt? Andere wissen es. Jeder Richter, jeder Leitende Polizeibeamte kennt das schmutzige Geschäft mit den Opfern. Ein Rechtspfleger etwa, von der Justiz eingesetzt, hätte vor falschen Beratern warnen können. Bedenkt man, dass es ganze Zeugenschutzprogramme für unzählige Täter gibt, darf doch diese Hilfe für die Opfer nichts Außergewöhnliches sein und schon gar nicht als Eingriff in Persönlichkeitsrechte gewertet werden.

Nein, im Fall Stephanie hat der Schutz des Opfers keine Rolle gespielt.

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