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Politik: Duzen Sie den Kanzler, Herr Öger? Der deutsch-türkische Unternehmer erklärt, was Deutsch-Türken und Türken

unterscheidet – und warum der Europa-Wahlkampf gefährlich werden könnte

Sie reisen mit dem Kanzler in die Türkei. In welcher Eigenschaft: Sind Sie als deutschtürkischer Unternehmer dabei oder als SPD-Europa-Wahlkämpfer?

Ich reise als deutsch-türkischer Unternehmer, der in Hamburg lebt und versucht, eine Brücke zwischen beiden Ländern und zwischen den hier lebenden Türken und den Deutschen zu bauen. In dieser Funktion fahre ich mit.

Kurz zuvor war die Oppositionsführerin Angela Merkel in der Türkei, nun kommt der Kanzler. Was soll er Regierungschef Erdogan sagen?

Zunächst zum Besuch von Angela Merkel. Ihr Besuch war eine Blamage, er war unnötig. Sie ist auf taube Ohren gestoßen. Alle Medien, alle Parteien in der Türkei waren über ihre Haltung bestürzt. Das allgemeine Urteil war, dass sie sehr vorurteilsbeladen ist und die Türkei nicht gut kennt.

Schadet Frau Merkels Verhalten denn den deutsch-türkischen Beziehungen?

Es schadet sehr. Frau Merkels Türkei-Bild ist geprägt durch die Erscheinung des muslimischen Bauern in Deutschland. Sie hat wenig Ahnung von den Verhältnissen in der Türkei. Sie weiß nicht, dass sich seit Atatürk in drei oder vier Generationen ein Bürgertum und eine neue Elite herausgebildet haben, die das Land führen.

Sehen die Deutschen also auf die falschen Türken?

Die Türken, die in Deutschland leben, sind zu 90 Prozent aus bäuerlichen Regionen Anatoliens und nicht aus der türkischen Mittelschicht. Sie sind ein Teil der Türkei, aber nicht die ganze Türkei. Wenn Angela Merkel, Edmund Stoiber und Günther Beckstein die Türkei sehen, sehen sie in erster Linie eine Masse potenzieller Einwanderer, was falsch ist. Angela Merkel erzählt von 25 Millionen Bauern. Aber 90 Prozent der türkischen Exportgüter sind Industrieprodukte.

Die Auseinandersetzung um den EU-Beitritt der Türkei wird auch den Europa-Wahlkampf dominieren. Was erwarten Sie?

In erster Linie denke ich da an das Zusammenleben der Türken hier mit den Deutschen. Ich befürchte, dass die Union im Europa-Wahlkampf nicht nur gegen den Beitritt argumentiert, sondern auch Stimmung gegen Türken macht. Das halte ich für sehr gefährlich. Man sollte nicht aus einem innenpolitischen Kalkül heraus ein Land und seine Menschen so niedermachen.

Was würde so ein Wahlkampf bewirken?

Er wird zu mehr Segregation führen. Die Türken werden sagen: Wenn die uns hier nicht haben wollen, dann ziehen wir uns zurück, kapseln uns ab. Die Ghettoisierungs-Tendenz könnte dadurch noch gestärkt werden.

Die Gefahr sehen Sie bei den Parteien der Berliner Koalition nicht?

Das ist einer der Gründe, warum ich zur SPD gegangen bin. Die Union dagegen kann sich bei den Deutsch-Türken keine Hoffnung mehr machen. Das sind bald eine Million Wähler, das sollte man nicht vergessen. Aber sie will bei konservativen Stammtisch-Wählern Stimmen holen. Der EU-Beitritt der Türkei ist ein heikles Thema. Aber es eignet sich nicht für den Wahlkampf.

Nun sagen auch die Wohlmeinenden, ein Beitritt werde mindestens zehn oder 15 Jahre dauern. Ist es denn dann richtig, jetzt schon über Beitrittsverhandlungen zu reden?

Kein vernünftiger Mensch behauptet doch, dass die Türkei jetzt schon beitreten könnte. Es geht nicht um Beitrittsgespräche, sondern um den Beginn der Aufnahmeverhandlungen. Als Gegenargumente höre ich immer die Furcht vor zwanzig Millionen Immigranten. Da lässt sich eine Übergangsregelung vereinbaren. In zwanzig Jahren wird sich viel verändern, die Geburtenrate im Westen der Türkei ist niedrig, auch im Osten geht sie zurück.

Wo sehen Sie die größten Probleme?

Die meisten Bedenken sind emotionaler Art und dienen dazu, Fremdenangst zu schüren. Es gibt in diesem Land gewisse konservative Kreise, die meinen, die Türkei gehöre historisch und kulturell nicht dazu. Gehören die Balkanländer zum Abendland? Oder das Kultur- und Geschichtsargument: Ich kenne kein orthodoxes Land, das eine Reformation erlebt hat. Die Lappen trinken das Blut von Rentieren. Die Griechen essen gegrillten Schafsdarm. Eine einheitliche Kultur gibt es nicht. Das Europa der Zukunft sollte eine Wertegemeinschaft sein.

Manche sagen: Erst wenn ein 16-jähriges türkisches Mädchen nicht mehr von ihrem Vater zwangsverheiratet wird, können wir über Wertegemeinschaft reden.

Warum muss man immer die schlechten Beispiele heranziehen? Ich komme aus einer Mittelschicht-Familie und habe so etwas nie erlebt. So wie mir geht es Millionen von Türken. Es gibt halt soziale Unterschiede auch innerhalb der türkischen Gesellschaft.

Haben die Deutschen insgesamt ein falsches Türkei-Bild?

Die Deutschen glauben, das ganze Land sei so wie die Türken in der Bundesrepublik. Davon ist ein Großteil bäuerlicher Herkunft. Wer in der Türkei mit dem Mittelstand in Berührung kommt, revidiert sofort seine Meinung.

Was sagen Sie dem türkischen Familienvater in Deutschland, der seine Frau aus Anatolien holt, damit sie nicht emanzipiert ist, der nicht willens oder in der Lage ist, seinen Kindern Deutsch beizubringen?

Ich finde die Entwicklung Besorgnis erregend. Diese Ghettoisierung finde ich furchtbar. Es ist für beide Seiten sehr schädlich, wenn sich die Immigranten von der deutschen Gesellschaft abkapseln. Wer die Türkei kennt, stellt fest: Atatürks Reformen sind von der städtischen, westlich orientierten Bevölkerung akzeptiert, sind aber nicht durchgedrungen bis aufs Land. In der Türkei leben zwei Gruppen von Menschen, die durch 100 bis 200 Jahre getrennt sind.

Gehört es auch zur Wertegemeinschaft, dass man sich ehrlich der eigenen Geschichte gegenüber verhält?

Selbstverständlich. Kommt jetzt die Armenienfrage?

Ja, es geht darum, ob die Türkei den Völkermord an den Armeniern durch die Türken im Ersten Weltkrieg bedauert, ob diese Debatte überhaupt zugelassen ist.

Ich wünschte es, dass die Türkei sich ehrlicher zu ihrer Geschichte bekennt. Aber warum müssen wir über dieses Thema reden, wenn es um die Beziehungen der Türkei zu Europa geht?

Die Frage, ob Meinungsfreiheit gewährt wird, ist doch wichtig für den EU-Beitritt. Wird sie das denn?

S elbstverständlich. Ich vertrete hier nicht den türkischen Staat, ich sage es aus Überzeugung: In der Türkei herrscht Meinungsfreiheit. Die Türkei befindet sich auf einem sehr guten Wege. Die Aussicht auf den EU-Beitritt hat die Reformen sehr beflügelt.

Was wären die Konsequenzen, wenn die Europäische Union beschließt, keine Beitrittsverhandlungen zu beginnen? Würde das den Reformprozess gefährden?

Absolut. Ich halte es für ein Glück, dass die jetzige Regierung als moslemische Demokraten sehr stark die Reformen und die Ideen voranbringt, die auch Deutschland von der Türkei verlangt. Aber es gibt auch noch nationalistische, autoritäre Kräfte in Bürokratie und Militär. Wenn die EU die Verhandlungen verweigert, würden diese reaktionären Kräfte sofort die Oberhand gewinnen.

Dann ist der Prozess ja nicht offen. Die Bundesregierung sagt, die Kopenhagener Kriterien sollen ergebnisoffen geprüft werden. Sie meinen: Die EU kann gar nicht nein sagen.

Ausschlaggebend hier ist nicht, ob die Kopenhagener Kriterien erfüllt werden. Entscheidend ist der politische Wille der EU, die Türkei aufzunehmen. Die Türken haben im Großen und Ganzen die Bedingungen der Kopenhagener Kriterien erfüllt, indem sie entsprechende Gesetze erlassen haben. Es hapert nun teilweise an deren Anwendung. Es geht darum, welchen politischen Vorteil Deutschland und Europa von einem Beitritt haben. Strategisch und wirtschaftlich können beide Seiten nur gewinnen.

Geht es auch um den Nachweis, dass auch ein islamisches Land demokratiefähig ist und Mitglied der EU sein kann?

Das ist das Hauptargument. Gerade im Kampf gegen Terrorismus ist die Türkei prädestiniert, eine Brücke zu bilden zwischen christlichen und islamischen Ländern. Wenn wir diese Nation als Vorzeigeland aufbauen, wird sie eine riesige Ausstrahlungskraft auf die gesamte islamische Welt entfalten. Wir beweisen allen Muslimen, dass sie nicht mehr das Gefühl der Inferiorität haben müssen, unter dem viele Menschen in arabischen Ländern leiden. Die Türkei ist für Europa ein Glücksfall.

Wie zufrieden ist der Unternehmer Öger mit der wirtschaftlichen Lage in Deutschland?

Ich bin nicht ganz zufrieden, aber das hat weniger mit der SPD zu tun, die alle für die schlechte Lage verantwortlich machen. Die Entwicklung hat viel früher angefangen, auch die Verschuldung.

Sind die Löhne in Deutschland zu hoch?

Leistung und Löhne müssen in einem gesunden Verhältnis zueinander stehen. Niedere Arbeit kann in Deutschland nicht mehr bezahlt werden, denn andere Länder stellen die gleichen Produkte zu einem Bruchteil der Lohnkosten her. Auch das Weiterführen der alten Subventionspolitik ist schädlich. Es kann nicht angehen, dass eine Tonne deutscher Steinkohle 150 Dollar pro Tonne kostet, während die Russen für 40 Dollar liefern.

Die Steinkohle-Subventionen würden Sie streichen?

Sofort. Ich würde alle Zechen schließen. Ich würde dem Kumpel Anton eine Abfindung von einhundert- oder zweihunderttausend Euro in die Hand drücken und versuchen, ihn umzuschulen. Deutschland muss keine Steinkohle mehr produzieren.

Sie sind Wahlkämpfer der SPD. In deren Stammland Nordrhein-Westfalen ist das ein Tabuthema.

Das mag ja sein. Was ich vorschlage, ist für deren Wohl. Den Sohn von Kumpel Anton würde ich nicht mehr in den Bergbau schicken, sondern in eine Zukunftsbranche…

In ein Reisebüro?

Warum nicht? Dienstleistung gehört zu den Zukunftsbranchen.

Zu Ihrer Partei: Wird der angekündigte Wechsel an der Parteispitze die SPD wieder aufrichten?

Ich denke schon. Müntefering ist in allen Parteigliederungen sehr beliebt. Ich selbst habe große Sympathien für Gerhard Schröder. Ich hoffe, dass er seine Reformvorhaben ohne Parteigezänk und Blockadepolitik der CDU durchführt. Man sollte ihm auch die Möglichkeiten und die Ruhe geben, das durchzuziehen.

Gab es in der SPD auch Ressentiments gegen den Neueinsteiger? Sie bekamen bei der Listenaufstellung zur Europawahl die meisten Gegenstimmen.

Der Grund ist wohl, dass ich ein Quereinsteiger bin und keine Parteikarriere gemacht habe. Die Leute haben mich gefragt, ob ich auch mit 18 Jahren Plakate geklebt hätte. Viele hätten gerne einen sicheren Listenplatz gehabt. Jeder, der es nicht geschafft hat, suchte einen Schuldigen. Ich denke, dass ich als pragmatischer Mensch der SPD hier und da ein paar Anregungen geben kann.

Sie sind Hamburger. Ist Thomas Mirow der richtige Kandidat für die Wahl zur Bürgerschaft?

Er ist ein sehr kompetenter, kluger Mann, der sehr hoch angesehen ist. Ole von Beust erfreut sich großer Sympathien. Das Rennen wird sehr schwer.

Sie hatten einmal das Angebot, in Ankara Minister zu werden. Wo fühlen Sie sich mehr zu Hause – in der Türkei oder in Deutschland?

Ich lebe seit meinem 18. Lebensjahr in Deutschland. Konservative Kreise werden es zwar nicht glauben, aber ich fühle mich mittlerweile wie ein Deutscher. Ich habe zwar ein riesiges türkisches Herz, aber ich bin ein Teil dieser Gesellschaft. Es ist auch mein Land geworden. Wenn Deutschland im Fußball gegen England spielt, schreie ich für Deutschland.

Und wenn Deutschland gegen die Türkei spielt?

Dann schlägt mein Herz für die Türkei. Weil die Menschen dort nicht so viel haben, um sich zu freuen. Und wenn sie gewinnen, dann gehen sie auf die Straße und feiern so ausgelassen, dass mir das Herz übergeht. Sie sollen diese Freude haben. Die Deutschen haben so viele Welterfolge, dass sie sich gar nicht vorstellen können, wie wichtig ein solcher Erfolg für die Türken ist. Die Begeisterungsfähigkeit der Türken halte ich für eine ganz große Tugend.

Herr Öger, wenn Sie den Bundeskanzler treffen, wie reden Sie ihn an? Duzen Sie ihn: Hör mal, Gerd…?

Untereinander duzen wir Sozialdemokraten uns. Den Kanzler habe ich bislang noch nie geduzt, aber ich werde mich daran gewöhnen. Mit Olaf Scholz und vielen anderen schaffe ich das schon. Den habe ich früher auch immer gesiezt. Aber beim Kanzler traue ich mich das Duzen noch nicht.

Die Fragen stellten Christoph von Marschall und Hans Monath. Fotos: Mike Wolff

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