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Politik: „Ein großer Kampf“

Die Verfassungsversammlung in Kabul ist gespalten – die Volksgruppen wollen keinen starken Präsidenten

Der afghanische Verfassungskonvent, die Loya Dschirga, dreht sich im Kreis: Der Vorsitzende des Gremiums, Sibgatullah Modschadedi, sowie dessen Stellvertreter und Interimspräsident Hamid Karsai sind bemüht, Zuversicht zu verbreiten – doch viele der Delegierten mauern. Schon als die 502 Abgeordneten am Donnerstag über den endgültigen Entwurf des neuen Grundgesetzes abstimmen sollten, boykottierten 40 Prozent das Plenum, das sich daraufhin auf Samstag vertagte. Bis spät in die Nacht suchten am Freitag der Vermittlungsausschuss und kleinere Ad-hoc-Arbeitsgruppen hinter fest verschlossenen Türen nach Kompromissen für die Endfassung der insgesamt 160 Artikel. Doch auch am Samstag wurde der Durchbruch nicht erzielt. Die Verhandlungen wurden auf diesen Sonntag vertagt – und Modschadedi sprach von einer „beschämenden Störung in der letzten Minute“.

Dass an diesem Sonntag die Versammlung tatsächlich zu Ende geht, ist fraglich: Zwei einander von Anfang an ausschließende Konzepte spalten die Delegierten nach wie vor in zwei unversöhnliche Lager. Ein Konflikt, der leider auch Teilerfolge wie die rechtliche Gleichstellung der Geschlechter, um die die hundert weiblichen Delegierten gekämpft hatten, wieder in Frage stellt. Modschadedi droht: „Wenn wir am Sonntag nicht zum Abschluss kommen, werden wir der Welt unser Scheitern bekannt geben.“

Interimspräsident Hamid Karsai, der dem Mehrheitsvolk der Paschtunen angehört, besteht auf der im ursprünglichen Entwurf festgeschriebenen straffen Machtvertikale, die das Kabinett einem Präsidenten mit weitgehend unbegrenzten Kompetenzen unterstellt. Die Vertreter ethnischer und religiöser Minderheiten fordern dagegen ein starkes Parlament, dem der Präsident rechenschaftspflichtig ist. Der soll seine Vollmachten zudem mit einem Premierminister teilen. Dieses Amt sieht der bisherige Entwurf allerdings gar nicht erst vor. Denn der orientiert sich über weite Strecken am Vorbild USA – nach Ansicht von Beobachtern steht er damit zwangsläufig im Widerspruch zur afghanischen Tradition. Denn diese setzt auf ein Minimum an Staat. Selbst in relativ stabilen Zeiten wurden in Afghanistan die meisten wichtigen Fragen durch Absprachen regionaler Stammesführer und Ältestenräte geregelt.

Nicht mehrheitsfähig sind vor allem Passagen, die weniger an die US- als vielmehr an die russische Verfassung erinnern. Unumschränkte Vollmachten für den Präsidenten hatte Karsai zur Bedingung für seine Kandidatur bei den Wahlen im Juni gemacht. Mit dessen Bestätigung stehen und fallen langfristige Pläne Washingtons für die gesamte Region. Vor allem mit Blick auf die eigene Wiederwahl will US-Präsident George W. Bush ein prowestliches Regime in Kabul sehen, von dem auch Impulse für einen Machtwechsel im Nachbarland Iran ausgehen sollen. Dass Karsai dabei ein Demokratiepotenzial zugeschrieben wird, das er nie besessen hat, steht auf einem anderen Blatt.

Karsais Gegner – allen voran die Tadschiken um Ex-Präsident Burhanuddin Rabbani – haben diese Zwänge durchschaut. Ihr Widerstand gegen die Verfassung ist daher eine Kampfansage an den Interimspräsidenten, die sie mit massenwirksamen Forderungen nach einer größeren Rolle für den Islam bemänteln. In den Basaren von Kabul ist daher derzeit nicht mehr von Loya Dschirga (Großer Ratsversammlung), sondern von „loya dschagra“ (großem Kampf) die Rede.

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