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Kosovo

© dpa

Ein neuer Staat für Europa: Kosovo seit 90 Tagen unabhängig

Der Optimismus im Kosovo ist groß, die Probleme auch – Bestandsaufnahme einer Staatswerdung.

Mit diesem Land stimmt etwas nicht. Das fällt sofort in Auge. Überall im Kosovo werden derzeit Häuser gebaut. Große Häuser aus rotem Backstein mit zwei oder drei Stockwerken und Balkonen. Wie Streusel liegen sie entlang der großen Straßen über das Land verteilt und zeugen vom Optimismus, der die Kosovaren seit der Unabhängigkeit erfüllt. Doch die meisten Häuser stehen völlig isoliert in der Landschaft. Keine Straße führt zu ihnen, keine Schulen, Geschäfte oder gar Betriebe umgeben sie. Tatsächlich ist das Kosovo ein Entwicklungsland, in das seit Jahrzehnten kaum etwas investiert wurde. Weder ins Gesundheits- oder Bildungssystem noch in die Wirtschaft. Der Bauboom wird von den 300 000 bis 400 000 Kosovaren finanziert, die im Ausland leben. Sie sind die Ersten, die ihr Erspartes auf den neuen Staat setzten.

Neun Jahre lang wurde die frühere serbische Provinz Kosovo von den UN verwaltet, am 17. Februar erklärte sie sich für unabhängig. In wenigen Wochen, wenn die neue Verfassung in Kraft tritt, soll die Regierung in der Hauptstadt Pristina endgültig die Verantwortung für die Zukunft des Landes übernehmen. Allerdings wird die EU weiter den Aufbau von Polizei und Justiz überwachen. „Die Eliten haben neun Jahre bei den UN mitgearbeitet und sollten für die Aufgabe gerüstet sein“, heißt es in UN-Kreisen. Andere fürchten, dass der neue Staat in die Hände der organisierten Kriminalität gerät. Tatsächlich ist das Land mit seinen 2,2 Millionen Einwohnern noch stark von Clanstrukturen geprägt. Einige wenige Großfamilien haben eine dominierende Stellung in Politik und Wirtschaft. Auch der derzeitige Regierungschef Hashim Thaci und der frühere Premier Ramush Haradinaj stammen aus diesem Umfeld. Beide spielten schon in der Befreiungsarmee UCK eine führende Rolle. Haradinaj wurde später vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag angeklagt, musste aber aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden – weil kaum jemand bereit war, gegen ihn auszusagen. „Diese Leute haben Einfluss auf allen gesellschaftlichen Ebenen, und den nutzen sie“, sagt Hilmi Jashari, ein von den UN eingesetzter Ombudsmann für Menschrechte und Korruption. „Es gibt Morde, die nie aufgeklärt wurden“, fügt er hinzu. Die Polizei ermittle nicht, Zeugen würden eingeschüchtert. „Es herrscht ein Klima der Angst“, fasst Jashari zusammen.

Zunächst sah es so aus, als hätte im Kosovo vor allem die serbische Minderheit Grund zum Fürchten. 2004 gab es massive Angriffe auf die rund 130 000 Serben. Doch das hat sich nicht wiederholt. Die Regierung in Pristina lässt keine Gelegenheit aus, die Serben zu beschwichtigen. Die neue Verfassung sichert ihnen weitgehende Rechte zu, so wie es die internationale Gemeinschaft gefordert hat. In den serbischen Enklaven im Süden, so berichten Mitarbeiter der UN, hätten sich die Bewohner mit der Situation auch arrangiert. Im Norden, wo rund ein Drittel der Kosovo-Serben lebt, herrschen allerdings beinahe anarchische Zustände. In der Stadt Mitrovica gab es im März Ausschreitungen gegen EU- und UN-Einrichtungen. Die serbische Regierung betreibt im Norden zudem weiter Krankenhäuser, Schulen und Behörden. Die Region nahm sogar an den serbischen Parlaments- und Kommunalwahlen teil. UN und kosovarische Behörden ließen dies zu, um neue Unruhen zu verhindern.

Mitrovica ist eine geteilte Stadt. Südlich des Flusses Ibar leben Albaner, im Norden Serben. An der einzigen öffentlich zugänglichen Brücke stehen auf serbischer Seite auffallend viele junge Männer herum. Die Bevölkerung nennt sie „Bridge Watcher“, Brückenwächter, die beobachten, wer den Fluss überquert. „Jeder, der Kontakt zum Süden hat, wird unter Druck gesetzt“, sagt eine NGO-Vertreterin, die lieber unerkannt bleiben möchte. Die junge Serbin lebt im Norden und arbeitet im Süden der Stadt. In ihr Büro traut sie sich jedoch seit Wochen nicht. „Und ich bin keine Ausnahme.“ Aus Sicht von Patrick Schmelzer, Regionalkoordinator des Forums Ziviler Friedensdienst (ZFD), der auf dem Balkan lokale Friedensinitiativen unterstützt, ist der Konflikt zwischen den Volksgruppen eine der größten Hypotheken für den neuen Staat. „Die beiden Volksgruppen leben seit langem völlig getrennt, da ist es schwer zueinanderzufinden.“ Der Ausweg: „Wenn es in der Politik hakt, ist es wichtig, mit der Zivilgesellschaft zu arbeiten“, erläutert Schmelzer. Und die ist im Kosovo sehr aktiv. 3000 Nichtregierungsorganisationen (NGO) gibt es inzwischen, darunter viele, die sich für die Versöhnung von Serben und Albanern einsetzen. Mithilfe des ZFD haben sie den Dachverband Pro Peace gegründet.

Ein solider Wirtschaftsaufschwung, so glauben Beobachter, könnte das Zusammenleben erleichtern. Wer mit seinem Leben zufrieden sei, der fange keinen Krieg mit dem Nachbarn an. Doch vom Wohlstand können die Menschen im Kosovo vorerst nur träumen. Zwar verfügt das Land über Kohle, Nickel, Zink, Uran und sogar Gold. Doch die Minen sind hoffnungslos veraltet. Hauptausfuhrprodukt des Kosovo ist Metallschrott, denn auch die Industrie liegt weitgehend brach. Und solange das marode Stromnetz regelmäßig zusammenbricht, wird sich daran nur wenig ändern.

Mechthild Henneke, Sprecherin der UN-Wirtschaftsabteilung im Kosovo, sieht aber erste positive Veränderungen. Mit UN-Hilfe seien mehr als 300 Staatsbetriebe privatisiert worden. „Auf diese Weise konnten mehrere tausend Arbeitsplätze geschaffen werden.“ Bei einer offiziellen Arbeitslosenquote von mehr als 60 Prozent werden sie dringend benötigt. Dennoch: 2007 wuchs die Wirtschaft nur um rund drei Prozent – zu wenig für das rasche Bevölkerungswachstum. Mehr als die Hälfte der Kosovaren ist jünger als 25 Jahre. Nur wenige sind gut ausgebildet, Ingenieure und Facharbeiter gibt es so gut wie keine. Bildung und Ausbildung werden daher auf lange Sicht die wichtigsten Aufgaben für die Verantwortlichen des Landes bleiben.

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