zum Hauptinhalt

Politik: Ein Volk wandert aus

Von Stalin Verbannte wollen Russland verlassen

Zwei Stunden hatten sie zum Packen, dann wurden sie in Viehwagen nach Kasachstan und Zentralasien gebracht. An diesem Montag vor 60 Jahren wurden die aus Georgien stammenden meschetischen Türken in die Verbannung geschickt, insgesamt 91 000 Menschen. Gut ein Fünftel starb unterwegs oder am Verbannungsort. Nur in Nuancen unterscheiden sich ihre Leidensberichte von denen anderer, von Stalin als „unzuverlässig“ diskriminierter und kollektiv deportierter Völker. Anders als andere durften sie bisher jedoch nicht in ihre Heimat zurückkehren. Mehr noch: Geschieht nicht in letzter Sekunde ein Wunder, werden sie ein drittes Mal vertrieben.

Die Tragödie der Volksgruppe – gegenwärtig noch etwa 320 000 Menschen – begann 1829, als das Osmanische Reich die Region Meschet-Dschachaweti, heute in Georgien gelegen, an Russland abtreten musste. Die dort lebenden Türken mussten sich das knappe Land fortan mit Armeniern teilen – Christen, die Zar Nikolaus I. dort zwangsansiedelte. Bald nach dem Sieg der Sowjetmacht zwang Stalin sie, türkische gegen georgische Familiennamen auszutauschen, ließ ihre Nationalität aus der Großen Sowjetenzyklopädie tilgen und verordnete ihnen in knapp fünfzehn Jahren dreimal ein neues Alphabet.

Nach der Verbannung 1944 mühsam in Zentralasien wieder heimisch geworden, kamen sie mit dem Ende der Sowjetunion erneut zwischen die Mühlsteine der Geschichte. Blutige Verteilungskämpfe zwischen einzelnen Volksgruppen zwangen Tausende zur Flucht. Rund 70 000 ließen sich in der Region Krasnodar am Schwarzen Meer nieder. Denn das inzwischen unabhängige Georgien verweigerte ihnen die Rückkehr. Und auch die neue Regierung in Tiflis mauert.

In Krasnodar indes blasen fremdenfeindliche Gouverneure mit Unterstützung paramilitärischer Kosakenbünde zur Treibjagd auf die „Fremden“. Obwohl ein Gesetz allen Bürgern der früheren Sowjetunion, die sich bei deren Zerfall in Russland aufhielten, die russische Staatsbürgerschaft garantiert, ist die Mehrzahl der meschetischen Türken in Krasnodar staaten- und damit weitgehend rechtlos.

Jeder legalen Existenzgrundlage beraubt, wandten sich mehrere Türkenführer an die US-Botschaft in Moskau und wurden erhört: Schon Ende November will Washington die ersten Gruppen aufnehmen. 5000 weitere sollen im Februar folgen. Die Nation, fürchtet mancher, höre dann jedoch auf zu bestehen. Denn in der neuen Heimat sollen maximal 50 Familien im gleichen Ort angesiedelt werden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false