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Frankfurter Finanzdienstleister in der Krise. Die Commerzbank vor der virtuellen Hauptversammlung am 13. Mai 2020.

© imago images/Jan Huebner

Global Challenges: Eine Chance für Berlin

Die Finanzplätze London und Hongkong leiden unter politischen Zäsuren. Deutschland kann aufschließen - müsste nur Aktienkultur und Risikokapital stärken. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Jörg Rocholl

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Prof. Jörg Rocholl PhD, Präsident der Wirtschaftshochschule ESMT in Berlin. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Prof. Dr. Volker Perthes,, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Die Ereignisse der vergangenen Wochen werfen ein denkbar schlechtes Licht auf den Finanzplatz Deutschland. Der Fall Wirecard beschäftigt weltweit Medien und Staatsanwälte. Von Deutschlands einstiger Zahlungstechnologie-Hoffnung, im Leitindex Dax notiert, bleibt nur ein Kriminalfall. Die Commerzbank steht zwar nicht im Visier der Ermittler, wirkt aber vor dem Doppelrücktritt von Vorstands-und Aufsichtsratsspitze führungslos. Ein Geschäftsmodell fehlt ihr seit langem.

Insgesamt ist die Lage der Kreditinstitute in Deutschland nicht gut. Die im internationalen Vergleich zu hohe Abhängigkeit von Zinserträgen und das ungünstige Verhältnis von Aufwand und Ertrag haben selbst in konjunkturell guten Zeiten eine zu geringe Profitabilität zur Folge. Man fragt sich, wo das enden soll, wenn in einer Krise wie der Corona-Pandemie die Kreditausfälle sprunghaft steigen.

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Kein Zweifel: Der Finanzplatz Deutschland bewegt sich nicht auf Augenhöhe mit dem im Ausland nach wie vor geschätzten Wirtschaftsstandort Deutschland – ein Manko, das umso gravierender ist, als gerade Deutschlands exportorientierte Unternehmen einen effizienten Finanzplatz brauchen. Ohne ihn droht auch die stärkste Volkwirtschaft Europas in Mitleidenschaft gezogen zu werden, was die geopolitische Position des Kontinents weiter schwächen würde. Wie also könnte der Finanzplatz Deutschland gestärkt werden?

Ergebnis internationaler Arbeitsteilung?

Kritiker mögen einwenden, die Finanzplatzschwäche sei ja nur das Ergebnis internationaler Arbeitsteilung: Während Deutschland sich auf seine Ingenieurskunst konzentriert, residieren die großen Finanzinstitutionen halt in England. Doch dieses Argument überzeugt nicht. Denn mit dem Brexit und seiner zunehmend wahrscheinlichen harten Variante wird es für deutsche Unternehmen immer schwieriger, über den Finanzplatz London Geschäfte abzuwickeln.

Man könnte auch vermuten, die Abneigung der Politik gegenüber einem Bankensystem, das die Weltfinanzkrise 2008/9 verursacht hat und auf Kosten der Allgemeinheit gerettet werden musste, sei nur allzu verständlich. Doch dieses Argument greift ebenfalls zu kurz, wie ein Blick auf den staatlichen Anteil an der Commerzbank zeigt.

Sein Verkauf würde die Steuerzahler Milliarden Euro kosten. Auch für den deutschen Steuerzahler ist in einer international ausgerichteten Volkswirtschaft, die nicht zuletzt dringend auf das Wachstum junger Unternehmen angewiesen ist, die Qualität des eigenen Finanzmarkts von großer Bedeutung.

Der deutsche Finanzmarkt zeichnet sich durch eine Reihe von Besonderheiten aus, im Vergleich zu anderen europäischen Staaten und besonders im Vergleich zu den USA. Erstens parken Anleger ihr Geld hier immer noch bevorzugt auf dem Sparbuch, obwohl es dort keine Zinsen mehr abwirft. Kurzzeitiges Interesse an boomenden Aktienmärkten flaut mit den nachfolgenden Rückschlägen schnell wieder ab.

Unterentwickelte Aktienkultur

Schlimmer noch: Viele Privatanleger in Deutschland kaufen erst dann Aktien, wenn der Aufschwung ausläuft und ihnen daher ein Großteil der Gewinne entgeht. Die Folge ist eine unterentwickelte Aktienkultur. Zweitens verdienen deutsche Kreditinstitute vor allem an der Marge zwischen Kredit- und Einlagezins, also an der Differenz zwischen dem, was sie Kreditnehmern abverlangen, und dem, was sie Einlegern bieten.

Dieses Geschäft lief so lange gut, bis der Einlagezins die Nulllinie erreichte. Dort scheint er in der durch Corona hervorgerufen Krise wie festbetoniert zu sein. Deshalb müssen deutsche Kreditinstitute ihr Geschäftsmodell selbst ohne den massiven Einfluss der Digitalisierung radikal überdenken. Ein anhaltend niedriges Zinsniveau beinhaltet für sie mindestens genauso große Herausforderungen wie für die Anleger.

Drittens finanzieren sich deutsche Unternehmen vor allem über Kredite – wenn sie denn überhaupt eine externe Finanzierung benötigen. Denn der lange Aufschwung hat Eigenkapitalquoten und Cashbestände der Unternehmen massiv erhöht. Selbst in der aktuellen Corona-Krise ist keine Kreditklemme zu beobachten, die Finanzierung der Unternehmen funktioniert.

Allerdings: Ein gut funktionierendes Finanzsystem geht weit über die Finanzierung von Krediten hinaus. Das wird schon deutlich, wenn man sich die Risikokapital-Investitionen anschaut, auf die gerade junge, technologisch innovative Unternehmen angewiesen sind. Diese Investitionen sind, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, in den USA 15mal höher als in Deutschland.

Marktmacht in den USA

Deshalb wundert es nicht, dass Unternehmen mit dem größten Zukunftspotenzial und insbesondere die großen Plattformunternehmen, die ihre heutige Marktmacht mit Hilfe von Risikokapital erreicht haben, vor allem in den USA zu finden sind und nicht in Deutschland.

Während die Finanzplätze London und Hongkong künftig unter spektakulären politischen Zäsuren leiden dürften – hier der Brexit-Beschluss, dort das von Peking oktroyierte „Sicherheitsgesetz“ – muss sich der Finanzplatz Deutschland „nur“ den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen stellen: Der Staat sollte die Aktienkultur heben, indem er etwa bei der Neujustierung des Rentensystems dem Beispiel von Ländern wie Schweden folgt und preisgünstige Aktienanlagen fördert.

Kreditinstitute können davon profitieren, ihre Abhängigkeit vom Zinsgeschäft zu verringern. Deutschland braucht außerdem eine neue Finanzierung für junge, wachsende Unternehmen, die meist über keine Sicherheiten verfügen, die sie Banken als Gegenleistung für Kredite anbieten können. Kreditfinanzierung kommt deshalb für viele Start-ups gar nicht in Frage. Sie benötigen Eigenkapital von darauf spezialisierten Anbietern, vor allem von Venture-Capital-Unternehmen.

Kurz gesagt: Neben Krediten und Fremdkapital müssen stärker Aktien und Eigenkapital treten. Die schwierige Vollendung der Kapitalmarktunion auf europäischer Ebene ist in diesem Zusammenhang ein entscheidendes Projekt, das Deutschland während seiner Ratspräsidentschaft vorantreiben muss.

Es gibt also viel zu tun, nicht nur bei Wirecard und Commerzbank. Europas Finanzplätze verdienen mehr Aufmerksamkeit, um deutschen und europäischen Unternehmen im internationalen Wettbewerb bessere Perspektiven zu geben. Finanzplätze wandeln sich und bieten neue Chancen. Wer hätte es vor Jahren schon gewagt, von Berlin als künftigem „Finanzplatz“ zu sprechen? Mit der wachsenden Bedeutung von FinTech-Unternehmen kommt die Hauptstadt dieser Beschreibung zumindest näher. Warum sollten Deutschland und Europa darauf nicht aufbauen?

Jörg Rocholl

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