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Politik: Eine historische Entschuldigung

Australiens Premier Rudd bittet die Ureinwohner für den jahrzehntelangen systematischen Kindesentzug um Vergebung

Am Mittwochmorgen stand das Leben in Australien still. Alle Augen richteten sich auf das Parlament in der Hauptstadt Canberra. Dort sprach der Premierminister Kevin Rudd das Wort aus, auf das Millionen seit Jahren gewartet hatten. „Sorry“, sagte der Politiker, „Entschuldigung“ bei den „gestohlenen Generationen der Ureinwohner“; diese Kinder waren ihren Eltern weggenommen worden. Rudd sagte es gleich sechs Mal.

In Melbourne hatten sich Tausende in der Innenstadt versammelt, um die Rede zu verfolgen, in Sydneys Bankenviertel am Martin Place bot sich das gleiche Bild trotz heftiger Regenschauer, in den meisten Schulen waren Fernseher eingeschaltet. Es gab Applaus, Buhrufe – vor allem aber viele Tränen. Im Parlamentsgebäude saßen alle noch lebenden früheren Regierungschefs – mit einer bemerkenswerten Ausnahme: sein Vorgänger John Howard ließ sich nicht blicken.

Hunderte schwarze Zuhörer im Parlamentsgebäude lauschten der Rede Rudds. Unter ihnen waren viele, die selbst noch ihren Müttern weggenommen worden waren. Diese Praxis hatte von 1910 bis Anfang der 70er Jahre angedauert, die meisten „gestohlenen“ Kinder wuchsen in Waisenhäusern oder bei weißen Pflegefamilien auf. Nach Schätzungen eines Untersuchungsberichtes waren zehn bis 30 Prozent aller Ureinwohnerkinder betroffen. Die umstrittene Politik hatte zwei Ziele: Zum einen glaubten die weißen Australier, die Kinder würden in der vornehmlich angelsächsischen Umgebung bessere Chancen haben. Es gab aber auch eine erkleckliche Zahl von Rassisten unter den Regierenden, die noch Ende der 30er Jahre offen dafür plädierten, die „minderwertige“ schwarze Bevölkerung in der weißen aufgehen und „verschwinden zu lassen“. Erst 1967 und auch dann erst nach einer Volksabstimmung erhielten die Ureinwohner das Wahlrecht. Rudd ließ in seiner Rede noch einmal die Schrecken und Ängste der Ureinwohner aufleben. Kinder versteckten sich, wenn der „Wohlfahrtsmann“ auftauchte, kauerten in eigens dafür angefertigten Erdlöchern. Selbst Wimbledonsiegerin Evonne Goolagong-Cawley erinnert sich, wie sie sich als kleines Mädchen unter dem Bett versteckt hatte, weil ihre Mutter und Tante sie gewarnt hatten. Die frühere Weltklassetennisspielerin vom Wiradjuri-Stamm war wie viele andere Aborigines nach Canberra gereist, um an diesem besonderen Tag dabei zu sein. „Jetzt kann die Heilung beginnen“, sagte sie, „sorry zu sagen, ist ein Ausdruck von Respekt. Ich glaube, dass wir jetzt eine bessere Chance haben, zusammenzuarbeiten.“ Auch viele andere Aborigines zollten dem Schritt des seit zweieinhalb Monaten amtierenden Regierungschefs Respekt.

Die knapp 500 000 Aborigines in Australien haben im Durchschnitt eine 17 Jahre niedrigere Lebenserwartung als die übrigen 20,5 Millionen Einwohner, sind in Gefängnissen und Polizeizellen weit überrepräsentiert. Dies war am Mittwoch nicht das Thema, und als Oppositionsführer Brendan Nelson in seiner Rede, in der er immerhin auch „sorry“ sagte, darauf anspielte, wurde er ausgebuht. Vor vielen Großbildleinwänden drehten ihm Zuschauer den Rücken zu. Aber nicht alle folgten dem Beispiel ihres neuen Chefs und Howard-Nachfolgers, einige Konservative boykottierten die Sitzung.

Weiter umstritten bleibt die Frage nach einer Entschädigung. Als vor mehr als zehn Jahren der Report „Bringt sie nach Hause“ vorgelegt wurde, in dem das Schicksal der „gestohlenen Generationen“ erstmals dokumentiert wurde, wurde darin auch eine Entschädigung verlangt. Rudd hat dies bisher abgelehnt, obwohl die tasmanische Landesregierung bereits Geld dafür zur Verfügung gestellt hat. Aber zumindest hat er eine Parlamentskommission berufen.

Alexander Hofmann[Sydney]

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