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Politik: Einheitsdebatte: Der wahre Kohl (Gastkommentar)

In Deutschland ist es noch ein streng gehütetes Geheimnis: Im Winter-Semester wird Helmut Kohl eine Geschichtsprofessur in Harvard übernehmen. Der Kanzler der Einheit ist müde von der Politik.

In Deutschland ist es noch ein streng gehütetes Geheimnis: Im Winter-Semester wird Helmut Kohl eine Geschichtsprofessur in Harvard übernehmen. Der Kanzler der Einheit ist müde von der Politik. Der promovierte Historiker kehrt ins akademische Leben zurück. Durch einen Zufall ist mir das Manuskript seiner ersten Vorlesung in die Hände gefallen: Gedanken und Erinnerungen des Staatsmannes und, auch das, seine Prognosen. Da kommt ein anderer, fast könnte man sagen: der wahre Kohl ans Tageslicht. Nicht rechthaberisch und verbittert, wie zuletzt in Deutschland, sondern klug, scharfsinnig, bescheiden, besorgt. Klar, dass auch im Mittelpunkt dieser Rede zehn Jahre Einheit stehen

"Als Deutschland endlich vereinigt wurde, freute man sich im Ausland. Besondere Glückwünsche kamen aus den USA. Der Präsident interpretierte die Einheit als Bestätigung der Demokratie. Nein, die Rede ist nicht von George Bushs Glückwünsch an mich, den Kanzler der Einheit des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Es geht um das Telegramm von Präsident Ulysses Grant an Otto von Bismarck 1871. Sie sehen, selbst US-Präsidenten können irren. Es kam bekanntlich ganz anders. Und heute? Hätte man zehn Jahre danach nicht ein anderes Deutschland erwarten dürfen - zumindest ein selbstbewussteres? Deutschland macht zunehmend den Eindruck von Inkompetenz, das Land stellt sich als Verlierer dar.

Dafür muss man gar nicht auf die Fußballnationalmannschaft verweisen, obwohl das schon schlimm genug ist. Die alte Bundesrepublik mit Fritz Walter, mit Seeler, Beckenbauer, Rummenigge war ja fast abonniert auf Endspiele. Schmerzlicher noch sind die Olympischen Spiele, wo früher wackere Ostler auf dem Treppchen standen. Das vereinte Deutschland ist schwächer als die Summe seiner Teile. Für den Sport war die Einheit ein gravierender Fehler. Die DDR allein hätte sicherlich besser abgeschnitten. Dort war man kaltblütig, wählte rücksichtslos aus, trainierte gnadenlos. Vor allem aber wusste die DDR, wie man richtig dopt. Diese Kunst ist gerade jetzt gefragt, weil strenger kontrolliert wird. Im Sport kann man kaum behaupten, dass die Ossis ein Klotz am Bein der Wessis sind. Im Gegenteil, der Westen hat ihre Leistungskraft geschmälert.

Im Westen versteht man dafür mehr von der Wirtschaft - glaubte man zumindest. Doch auch das haben zehn Jahre Einheit als Mythos entlarvt. Nicht nur wegen der Abwicklung vieler pfiffiger DDR-Produkte. Sondern wegen des Euro. Zur Zeit der Wiedervereinigung habe auch ich immer wieder gesagt: Keinem wird es mit dem Euro schlechter gehen. Die Ossis sollten keinen Grund zur Klage haben, sie hätten die Einheit nicht erkämpft, um die D-Mark aufzugeben. Ich muss zugeben: Bald werden die Ossis auf ihr liebstes Hobby verzichten müssen - das Reisen im Ausland - weil der Dollar zu teuer ist. Früher durften sie nicht reisen wegen der Mauer, heute sind sie hinter einer Währungsmauer der Euro-Schwäche.

Am schlimmsten jedoch sind die Versuche, Deutschland zu spalten. Klar, in meinen Ansprachen rund um den 3. Oktober musste ich den im politischen Kampf üblichen Unsinn erzählen: Dass die SPD jeden Glauben an die Wiedervereinigung aufgegeben hatte und nur noch mit der SED kungelte. Hier im Ausland, aus ruhiger akademischer Distanz, kann ich das korrigieren: Die Unterschiede zwischen CDU und SPD waren gar nicht so groß. Mir scheint sogar: Hier von der anderen Seite des Atlantiks aus können viele Amerikaner kaum noch gravierende Unterschiede zwischen Ossis und Wessis erkennen. Manche wissen gar nicht so genau, wo Deutschland liegt - irgendwo zwischen Polen und Russland? So glücklich ich über die Wiedervereinigung bin, für mich als Historiker ist eine Lehre klar: Solange Deutschland bei den Olympischen Spielen nicht siegt, fehlt ihm der Platz an der Sonne."

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